Herr Schulze, ein Schlaganfall mit 43 Jahren hat Sie aus Ihrem gewohnten Leben geworfen. Sie haben über das Ereignis, aber vor allem über die Zeit danach, ein Buch geschrieben. Was war Ihre Intention?
Zum einen möchte ich ein Bewusstsein schaffen, dass Schlaganfälle nicht nur ältere Menschen treffen können. Ich hatte damals keine näheren Informationen. Dadurch ist vielleicht auch viel kostbare Zeit verstrichen, bevor der Notarzt gerufen wurde. Zum anderen möchte ich mit dem Buch Mut machen. Auch mit Mitte 40 geht das Leben nach einem Schlaganfall nicht „irgendwie schlecht“ weiter. Früher wären von Schlaganfall betroffene Menschen in meinem Alter in einem Pflegeheim gelandet und hätten dort wahrscheinlich den Rest des Lebens verbringen müssen. Das ist heute zum Glück anders, oder kann anders sein. Denn eine Reha nach Schlaganfall ist auch heute noch nicht auf Menschen ausgerichtet, die Mitten im Leben stehen. Von daher ist einfach viel Eigeninitiative nötig.
Welche Symptome haben Sie denn an sich festgestellt?
Als ich abends im Bett lag, bemerkte ich, dass ich meinen linken Arm und mein linkes Bein nicht mehr bewegen konnte. Ich dachte da eher an ein orthopädisches Problem, nicht aber an ein neurologisches. Mein Sohn machte sich Sorgen und telefonierte dazu mit meiner Frau. Ich war mit meinem damals 13-jährigen Sohn in unserer neuen Wohnung in Hamburg, da er dort die Schule besuchte. Wir waren gerade dabei, als Familie unseren Lebensort zu wechseln und meine Frau war noch in unserer alten Wohnung. Sie hatte dann schließlich am nächsten Morgen aus der Ferne entschieden, den Notruf anzurufen und sie traf zeitgleich mit den Sanitätern bei mir ein. Der Notarzt wies mich sofort auf eine Stroke Unit ein, aber da waren halt schon acht Stunden nach den ersten Symptomen vergangen und ziemlich viel Hirn-Areal zerstört.
Sie schreiben, dass Sie damals im September 2020, als Sie der Schlaganfall getroffen hat, kaum Informationen zu Schlaganfällen in jüngeren Jahren gefunden haben. Was ist anders und warum braucht man gesonderte Informationen?
Wenn ich von Menschen in jüngeren Jahren spreche, denke ich nicht an ein bestimmtes Alter, sondern eher an die Lebenssituation, wenn man also im Arbeitsleben steht, ein Kind versorgen muss usw. Aber ich bin in meiner Recherche, die ich im Nachgang betrieben habe, auch auf Zahlen gestoßen.
Wollen Sie Ihre Erkenntnisse mit uns teilen?
Es ist davon die Rede, dass jährlich etwa 30.000 Menschen unter 55 Jahren von Schlaganfall betroffen sind. Das sind gemessen an den jährlich insgesamt 270.000 Fällen bundesweit natürlich nicht viel.
Ein Thema, das Ihnen anscheinend sehr am Herzen liegt, ist „Hilfe für Betroffene“. Dabei unterscheiden Sie sehr genau, was Hilfe ist, und was nicht. Oder um es mit Ihren Worten zu sagen: „Hilfe ist das, was bei einem Schlaganfall-Patienten ankommt, und nicht das, was Angehörige geben wollen.“ Haben Sie da mal ein Beispiel?
Elementar ist eben, was der Empfänger wirklich braucht. Ich kann ein Beispiel erzählen. Meine linke Hand und mein linker Arm sind immer noch ohne Gefühl. Wenn ich mit einer Hand einen Apfel schneiden will und dazu ein Messer in die Hand nehme, dann werden die Menschen in meinem Umfeld nervös und möchten mir das gerne abnehmen. Ich verstehe es total, dass es in solch einer Situation für Angehörige schwierig ist, nicht einzugreifen. Mir ist es aber wichtig, dass ich die Sicherheit zurückerlange, die Dinge wieder selbst tun zu können. So ging es mir auch mit dem Autofahren, das ein Stück Freiheit bedeutet. Ich habe einen Knauf an meinem Lenkrad anbringen lassen, um einhändig fahren zu können. Das musste ich selbst bezahlen und auch die Fahrprüfung, die damit abgelegt werden muss.
Können Sie aufgrund Ihrer Erfahrung einen Rat geben, wie Konflikte zwischen hilfebedürftigen Menschen und Angehörigen entschärft oder vermieden werden können?
Da hilft nur Kommunikation. Am besten fragt man den Betroffenen: Wann möchtest Du Hilfe haben, und wann soll ich Dich „machen lassen“? Zu bedenken ist: Die Frustrationsgrenze ist bei einem Erwachsenen, der seinen Alltag nicht mehr selbstständig bewältigen kann, stark herabgesetzt. Und andererseits kann ein gesunder Angehöriger nicht wirklich nachempfinden, wie es demjenigen geht. Das birgt Konfliktpotenzial.
Martin Schulze (46) ist verheiratet und Vater eines 17-jährigen Sohnes. In seiner Jugend betrieb er Leistungssport und ging später zum Studium der internationalen Betriebswirtschaftslehre in die USA, wo er noch für weitere zwölf Jahre lebte und arbeitete. 2010 kehrte er mit seiner Familie nach Deutschland zurück. In Hamburg erlitt er 2020 – mit 43 Jahren – einen Schlaganfall. Heute, vier Jahre nach dem Ereignis, kann er – entgegen aller Prognosen – wieder laufen, Vollzeit arbeiten und stand sogar wieder auf seinem Snowboard. Um die literarische Lücke mit Informationen zu Schlaganfällen in jungen Jahren zu schließen, hat er ein Buch über seine Erfahrungen mit dem Titel „Lost.In.Life. – Wie mein Schlaganfall mir das Leben rettete“ geschrieben und online veröffentlicht: https://www.lebensretterschlaganfall.de/inhaltsverzeichnis/
Eine der häufigsten Begleiterscheinungen nach einem Schlaganfall, so Ihre Beobachtung und eigene Erfahrung, ist eine Depression. Bei Ihnen trat sie ein Jahr nach Ihrem akuten Schlaganfall auf. Auch wenn jeder Mensch einen eigenen Umgang mit Krisen finden muss, und sich Menschen in ihrer mentalen Stärke unterscheiden: Warum besteht die Gefahr, nach so einem Erlebnis auch noch psychisch zu erkranken?
Ich glaube, dass jedes Trauma das Potenzial hat, eine Depression auszulösen. Ich hatte den Schlaganfall im September 2020 und kam im Dezember aus der Reha zurück. Ambulant machte ich mit Ergotherapie und Physiotherapie weiter, aber nahm auch Schmerzmittel. Und dann kam der Jahrestag des Schlaganfalls und irgendwie hat das nochmal etwas mit mir gemacht. Es ist jetzt das vierte Jahr nach dem Schlaganfall und ich habe im September das erste Mal nicht daran gedacht.
Und was raten Sie dann? Sie selbst schreiben, dass Sie die Art der Hilfe, die vielleicht angemessen gewesen wäre, nämlich in eine psychotherapeutische Klinik zu gehen, nicht annehmen konnten. Was hat Ihnen geholfen?
Ich war nach dem Schlaganfall mehrere Wochen in einer stationären Reha und wollte nicht schon wieder in ein Krankenhaus. Aber der psychische Leidensdruck war so groß, dass ich wusste, dass ich mir Hilfe suchen muss. Und dabei hat mir meine Schwester sehr geholfen, die es in die Hand genommen hat und mir letztlich einen Platz in einer Tagesklinik organisiert hat, die ich vier Monate lang besuchte. Heute sehe ich die Depression auch als Chance.
Inwiefern?
Ich war gezwungen, mein ganzes bisheriges Leben zu überprüfen und mich zu fragen, ob es das Leben war, das ich führen wollte. Mein Ziel war immer, wieder in meinen Beruf zurückzukehren. Ich hatte mir sogar schon Stellenangebote in Werbeagenturen rausgesucht. Heute frage ich mich, warum ich mich überhaupt wieder mit dem Gedanken getragen habe, in eine Agentur zurückzugehen.
Wo arbeiten Sie heute?
Ich bin im Projektmanagement der Umweltbehörde der Stadt Hamburg angestellt. Und ich fühle mich viel erfüllter in meinem Job als früher, erlebe ihn als sinnstiftend.
Und dann geht es in Ihrem Leben und damit in Ihrem Buch noch um ganz konkrete Themen wie Kochen, Autofahren, Arbeiten und auch Intimität mit Einschränkungen nach einem Schlaganfall. Mögen Sie dazu kurz noch etwas sagen?
Das Kapitel in dem Buch habe ich sehr praxisnah gehalten, sogar mit Einkaufstipps aufgrund meiner eigenen Erfahrung. Es gibt gute Hilfen in der Küche, zum Beispiel Einhandbretter. Aber es gibt da eben auch wesentliche praktische und qualitätsbezogene Unterschiede. Das Gleiche gilt für Kleidung, Jacken und Reißverschlüsse sind für mich eine Herausforderung. Ich wollte aber meinen Bekleidungsstil beibehalten und nun nicht im Sanitätshaus einkaufen gehen. Auch da gebe ich in meinem Buch einige Tipps. Mein großer Wunsch ist es, einen Verlag zu finden, der das Buch drucken würde. Ich habe die Inhalte aber schonmal online auf meiner Homepage veröffentlicht.
Was würden Sie sagen, wo stehen Sie heute, vier Jahre nach Ihrem Schlaganfall?
Es gibt immer wieder Tage, an denen ich niedergeschlagen bin. Aber ich weiß im Grunde auch, was ich kann. Ich versuche meine Einschränkungen zu nutzen, um selbst zu wachsen und um mehr Verständnis für andere aufzubringen. Aber ja, es schwingt immer mit, dass es nochmal passieren kann.