Kurz nachdem wir das Interview mit Frau Staffler geführt hatten, wurde bekannt, dass die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Finanzierungslücke in der Pflegeversicherung überlegt, den Pflegegrad 1 abzuschaffen. Dieser garantiert Menschen mit „geringer Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“ einen Anspruch auf Unterstützungsleistungen und soll vor allem präventiv wirken, um eine stärkere Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder hinauszuzögern. Aktuell sind rund 900.000 Menschen in Pflegegrad 1 eingestuft.
Die Meldung löste teils heftige Reaktionen aus: Sozialverbände und Interessensvertretungen zeigten sich schockiert und warnten vor einer zusätzlichen Belastung insbesondere der pflegenden Angehörigen von Betroffenen sowie einer steigenden Pflegebedürftigkeit infolge fehlender Prävention. Auch führende SPD-Politiker sprachen sich gegen eine Abschaffung aus. Entscheidend könnten die Ergebnisse der vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzten Kommission zur Pflegereform sowie der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflege sein. Beide werden noch im Oktober erwartet.
Vor diesem Hintergrund haben wir die Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, die Teil der Bund-Länder-AG ist, noch nachträglich um ein Statement gebeten:
Bereits bei den Koalitionsverhandlungen wurde über den Pflegegrad 1 diskutiert. Diese wie jede andere Frage zu stellen, ist natürlich vollkommen legitim. Die Pflegeversicherung ist aktuell aus den verschiedenen Gründen finanziell unter Druck. Vor diesem Hintergrund ist es gerade zu geboten, darüber nachzudenken, wie die knappen finanziellen Mittel am besten im Sinne der Pflegebedürftigen eingesetzt werden können. Ich bin daher dagegen, hier mit Denkverboten zu agieren. Eines muss aber auch klar sein, nur den Pflegegrad 1 einfach abzuschaffen, um Geld zu sparen, wäre eindeutig falsch. Wir benötigen ein Gesamtkonzept. Das erarbeiten wir gerade in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Dort diskutieren wir jetzt, wie wir diesem Ziel näherkommen können. Denn gerade der Pflegegrad 1 sollte bewirken, dass Menschen in einem möglichst frühen Zeitpunkt gezielte Hilfen erhalten und als Folge erst später in einen der höheren Grade wechseln. Am Ende muss es ein Gesamtpaket werden. Dabei ist mir besonders wichtig, dass es uns gelingt, die hohe Komplexität des Leistungsangebots zu reduzieren und stärker etwa über einen Ausbau der Pflegebudgets auf die individuellen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen abzustimmen.
Frau Staffler, viele der über 5 Millionen Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen warten darauf, dass sie mehr in Planungs- und Entscheidungsprozesse für Reformen in der Pflegeversicherung einbezogen werden. Können Sie sagen, ob diese Hoffnung begründet ist?
Es ist vollkommen klar, dass gute Pflegepolitik mit den Menschen gestaltet werden muss, die direkt davon betroffen sind. Als Pflegebevollmächtigte ist es meine Aufgabe, den pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen eine Stimme zu geben. Ich setze mich dafür ein, dass ihre Belange in die politische Entscheidungsfindung einfließen. Dafür trete ich regelmäßig in den Dialog mit Pflegebedürftigen, pflegenden Angehörigen, Fachkräften sowie Verbänden und Selbsthilfegruppen – sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. Mir ist bewusst, dass noch viel zu tun ist, um die Beteiligung wirklich flächendeckend und wirksam zu verankern. Aber dafür bin ich unter anderem angetreten.
Die Zahl der Pflegebedürftigen hat sich zwischen 2014 und 2024 nahezu verdoppelt. Derzeit erhalten etwa 5,6 Millionen Menschen in Deutschland Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung. Sie haben als Ziel ausgegeben, die Pflegeversicherung auf eine solide Basis zu stellen. Wie kann das angesichts dieser Zahlen gelingen?
Angesichts der steigenden Zahl Pflegebedürftiger muss es gelingen, die Pflegeversicherung so umzugestalten, dass diese langfristig finanziell stabil und gleichzeitig leistungsfähig bleibt. Das ist natürlich eine sehr komplexe Aufgabe und bedarf gezielter Reformen, die derzeit in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit meiner Beteiligung erarbeitet werden. Neben der soliden Finanzierung müssen wir aber explizit auch die strukturellen Themen angehen. Das heißt zum Beispiel auch, die Effizienz der Versorgung zu verbessern, bürokratische Hürden abzubauen und pflegende Angehörige weiter zu stärken. Gleichzeitig braucht es gezielte Prävention und frühzeitige Unterstützung, um den Pflegebedarf möglichst gering zu halten, beziehungsweise zeitlich hinauszuzögern. Nur mit solch ganzheitlichen Konzepten von Bund, Land und Kommune kann es gelingen, die Versorgung zukunftsfest zu gestalten.
Katrin Staffler (Jahrgang 1981) studierte Biochemie mit dem Schwerpunkt Immunologie und klinische Chemie an der TU München. Das Studium schloss sie 2006 mit dem Master of Science ab. Nach einer mehrjährigen Forschungstätigkeit am Klinikum Rechts der Isar in München arbeitete sie von 2010 bis 2015 in der Kommunikationsberatung mit Schwerpunkt Gesundheitswesen und von 2015 bis 2017 als Pressesprecherin. Sie trat 2007 in die CSU ein und ist seitdem in unterschiedlichen Positionen aktiv. Seit 2017 ist Katrin Staffler Mitglied des Bundestages, am 28. Mai 2025 wurde sie zur Pflegebevollmächtigten bestellt.
Pflegende Angehörige äußern vermehrt den Wunsch nach sozialer Absicherung, da sie nicht selten ihre Arbeitszeit verkürzen oder ihren Beruf zugunsten der Angehörigenpflege aufgeben. Von politischen Vertretern wurde dazu eine Entlohnung analog des „Elterngeldes“ in die Debatte eingebracht. Noch wichtiger scheint Angehörigen in dieser Angelegenheit aber eine Zahlung für sie in die Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung zu sein. Was halten Sie für realistisch?
Pflegende Angehörige tragen eine enorme Verantwortung, oft unter großem persönlichem Einsatz und oft auch mit finanziellen Einbußen, wenn dafür die Arbeitszeit reduziert wird. Dass sie sich eine bessere soziale Absicherung wünschen, ist absolut nachvollziehbar. Ein Entlohnungsmodell nach dem Vorbild des Elterngeldes ist einer der aktuell diskutierten Vorschläge und wird gerade von der zuständigen Familienministerin erarbeitet. Aber schon heute werden Pflegezeiten in der Rentenversicherung angerechnet. Wichtig wäre hier, dass die Beiträge nicht mehr aus der Pflegeversicherung bezahlt werden und diese dadurch zusätzlich belasten. Und es ist klar, dass die bisherigen Regelungen nicht alle Lebensrealitäten abbilden. Auch zu diesen Themen wird die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Vorschläge machen, die bis Ende des Jahres vorliegen. Ein wichtiges Ziel ist die Entlastung der pflegenden Angehörigen und Stärkung des häuslichen Pflegesettings. Denn ohne Menschen, die dazu bereit sind und die Ressourcen dazu haben, ihre Nächsten zu pflegen, wird das Pflegesystem nicht auskommen.
Es ist ein Trend in der Pflegelandschaft zu beobachten: Die Auflösung der Sektoren stationär und ambulant in Richtung „stambulant“. Für Betroffene mag diese Form der durchlässigeren Versorgung, gerade wenn man den hohen Eigenanteil bei der Unterbringung im Heim betrachtet, entgegenkommen. Welchen Nutzen sehen Sie in dieser Entwicklung?
Wir brauchen flexible und pragmatische Versorgungs- und Wohnformen. Die starre Aufteilung in ambulante oder stationäre Kästchen ist nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen flexiblere, bedarfsgerechte Betreuung und Pflege. Die Verzahnung ambulanter und stationärer Leistungen, der professionellen und informellen Pflege muss noch besser werden. Nur dann gelingt es, dem Wunsch vieler Menschen Rechnung zu tragen, möglichst lange selbstbestimmt zu leben.
Wie kann der Weg zu dieser gemischten Versorgungsform gelingen, in der Menschen mit höherem Pflegebedarf Sicherheit und Gemeinschaft geboten werden, ohne dass sie den Weg ins klassische Pflegeheim einschlagen müssen?
Durch den Ausbau flexibler Wohn- und Betreuungsangebote, die ambulante und stationäre Leistungen verbinden. Wichtig ist dabei eine bessere Vernetzung der Akteure, der Abbau bürokratischer Hürden, weniger Sektorengrenzen sowie die gezielte Förderung von innovativen Wohnformen und mobilen Diensten. Wichtig dabei ist mir auch, dass wir anstatt der vielfachen Kontrollen wieder eine Vertrauenskultur schaffen.
Sie haben bei Ihrem Amtsantritt eine umfassende Reform in der Pflegepolitik angemahnt und setzen dabei auch auf die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegereform, die bis Ende des Jahres Vorschläge erarbeiten soll. Wo sehen Sie Stadt- und Kommunalverwaltungen bei der Schaffung von wohnortnahen Versorgungsmöglichkeiten für Pflegebedürftige beziehungsweise wie wollen Sie da mehr Anreize schaffen?
Eine erfolgreiche Pflegereform muss auch die kommunale Ebene stärken und in die Verantwortung nehmen. Sie ist zentral, wenn es darum geht, Versorgungsstrukturen vor Ort zu planen, zu vernetzen und weiterzuentwickeln – sei es durch ambulante Dienste, alternative Wohnformen, gezielte Pflegeberatung oder Begegnungsorte und -angebote für Menschen. Das wird auch in der Bund-Länder-AG thematisiert. Damit die Kommunen aktiv werden können, brauchen sie nicht nur die finanzielle Grundlage, sondern auch eine gute Datengrundlage. Nur so kann regionaler Bedarf frühzeitig erkannt, geplant und entsprechend agiert werden.
Aus dem aktuellen „Report Pflegebedürftigkeit“ des Medizinischen Dienst Bund geht hervor, dass pflegebedürftige Kinder- und Jugendliche nahezu ausschließlich ambulant versorgt werden. Liegt das unter Umständen auch daran, dass es zu wenig geeignete stationäre Unterbringungsmöglichkeiten für diese Gruppe der Pflegebedürftigen gibt?
Ja, pflegebedürftige Kinder und Jugendliche werden meist ambulant versorgt. Das ist zum einen durch den natürlichen Wunsch der Familien begründet, ihr Kind zuhause aufwachsen zu lassen und zu versorgen. Insbesondere für diesen Personenkreis ist es daher wichtig, ambulante Angebote und Entlastungsleistungen auszubauen. Zum anderen liegt es aber auch daran, weil es zu wenige spezialisierte stationäre Einrichtungen gibt.
Wie wollen Sie Eltern dieser Kinder ansprechen, die sich in den bestehenden Versorgungsstrukturen oft nicht wiederfinden?
Viele pflegende Eltern wünschen sich verständlicherweise mehr Unterstützung und Entlastung. Diese Aufgabe ist komplex – vor allem, wenn es um strukturelle Veränderungen geht. Denn die Gruppe der Eltern mit pflegebedürftigen Kindern ist zahlenmäßig kleiner und ihre Bedarfe unterscheiden sich an vielen Stellen sehr von denen anderer pflegender Angehöriger. Insbesondere in ländlichen Gegenden ist es schwer, hier flächendeckend sinnvolle Angebote zu schaffen. Deshalb haben wir 2024 zuerst für die Kinder und Jugendlichen die Leistungen der Verhinderungspflege und der Kurzzeitpflege in einem Betrag flexibilisiert. Das ist ein erster Schritt in Richtung eines flexibleren Settings für passgenauere Unterstützung und Entlastung. Diesen Weg müssen wir konsequent weitergehen. Dafür setze ich mich ein.
Die Mehrheit der pflegenden Angehörigen fühlt sich allein gelassen und wünscht sich mehr Unterstützung. Wie holen Sie diese Menschen ab?
Eine Pflegesituation tritt oft plötzlich ein. Demzufolge übernehmen viele Menschen die Pflege ihrer Angehörigen unerwartet und unvorbereitet. Deshalb müssen Informationen, Beratung und konkrete Hilfen leichter zugänglich sein, zum Beispiel durch wohnortnahe Pflegestützpunkte, verständliche Online-Angebote und flexible Unterstützungs- und Entlastungsleistungen. Auch Präventionsangebote und gute Vernetzungsmöglichkeiten sind wichtig, um den Alltag für pflegende Angehörige zu erleichtern. Und ganz wichtig: Die Menschen müssen sich sicher sein, dass sie die nötige Unterstützung verlässlich und bezahlbar erhalten. Ein „weiter so“ und Nachjustieren an einzelnen Paragraphen reicht nicht mehr. Wir müssen jetzt die Pflegeversicherung modernisieren. Das ist mein Ziel in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe.
Woran möchten Sie sich am Ende Ihrer Amtszeit messen lassen?
Der Umgang mit Pflegebedürftigkeit muss in unserer Gesellschaft viel selbstverständlicher werden. Nahezu jeder kennt jemanden, der pflegt oder sich um andere kümmert. Hier müssen wir viel stärker unterstützen – das ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern der gesamten Gesellschaft. Es braucht greifbare Fortschritte bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, beim Zugang zu Beratungs- und Entlastungsangeboten und auch bei der Anerkennung und Sichtbarkeit des Engagements der Pflegenden. Die Menschen sollten sich nicht länger durch ein unübersichtliches System kämpfen müssen. Das alles wird nicht einfach, aber ich hoffe, dass wir am Ende meiner Amtszeit hier ein ganzes Stück weiter sind.
Das Amt der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung ist 2014 vom Kabinett geschaffen worden. Die Pflegebevollmächtigte soll Interessen der Pflegebedürftigen und alle am Thema „Pflege“ Beteiligten in politischen Gremien vertreten und sich dafür einsetzen, dass ihre Belange im Mittelpunkt des Pflege- und Gesundheitssystems stehen. Die Bundesministerien und -behörden beteiligen die Pflegebevollmächtigte bei allen Gesetzes- und Verordnungsvorhaben mit Pflegebezug.