
Professor Dr. Thomas Klie (69) ist Professor für Rechts- und Verwaltungswissenschaften mit den Forschungsschwerpunkten soziale Gerontologie und Pflege. Er war einer der Laudatoren bei der Verleihung des “Berliner Pflegebären” im Rahmen der diesjährigen “Woche der pflegenden Angehörigen” im Mai.
Die Boomer sind das Problem und die Lösung zugleich – Lösung aber nur, wenn sie sich auch pflegepolitisch auf den Weg machen.
Warum gibt es für pflegende Angehörige keine bundesweit agierende, schlagfertige Interessenvertretung und was bräuchte es dafür?
Zum Glück gibt es eine Reihe von engagierten Interessensvertretungen für pflegende Angehörige, etwa „Wir pflegen e.V.“ oder die Deutsche Alzheimergesellschaft. Eine „Gewerkschaft“ pflegender Angehöriger, wie sie etwa aus Großbritannien bekannt ist, sie fehlt in der Tat. Die Stimme der pflegenden An- und Zugehörigen, wie auch der Zivilgesellschaft, die sich als Advokatoren pflegender An- und Zugehöriger versteht, gilt es zu stärken. Es ist nicht untypisch, dass diejenigen, die häufig in emphatischer Weise Sorge für auf Hilfe angewiesene Menschen tragen und Pflegeaufgaben übernehmen – zumeist Frauen – weder die Kraft noch das Selbstverständnis haben, sich für ihre Rechte und für die Bedingungen fairer Verteilung von Sorgeaufgaben einzusetzen. Darum braucht es ein entsprechendes Empowerment.
Auch muss man der Rede von der Familie als „größte Pflegestelle der Nation“ entgegentreten. Die Übernahme von Pflegeaufgaben – meist von Frauen – wird immer noch recht selbstverständlich vorausgesetzt. Und die Politikerrede von der größten Pflegestelle der Nation klingt doch immer sehr patriarchal.
Hätten Sie politische Macht – was würden Sie sofort ändern?
Es braucht eine Strukturreform der Pflege und Teilhabe. Daran arbeiten wir schon lange. Es gilt die Sektorengrenzen zu überwinden, die Leistungen zu flexibilisieren, die Professionalisierung der Pflege zu stärken, wohnortnahe Versorgungskonzepte zu unterstützen. Und es gilt die Langzeitpflege als eigenes Politikfeld zu profilieren.
Pflegepolitik wird heute im Wesentlichen als ein Annex an die Gesundheitspolitik verstanden und gestaltet. Die Pflegeversicherung ist im Souterrain der deutschen Gesundheitspolitik angesiedelt. Das sieht man auch aktuell wieder. Wenn, dann geht es um die Sicherung der Finanzen der Pflegeversicherung und damit ganz wesentlich um die Interessen der Stakeholder der Langzeitpflege. (Langzeit-)Pflege ist an sich Teil von Gesellschafts- und Familienpolitik und gehört als eigenständiger Politikbereich ins Familienministerium. Dann hätte – bei Durchsetzungsfähigkeiten des Ressorts – das Thema Pflege Zeit die Infrastrukturverantwortung für Tages- und Kurzzeitpflege (wie bei den Kindertagesstätten) und das Thema Vereinbarkeit einen ganz anderen Stellenwert.
Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft?
Die Pflegerepublik Deutschland ist pflegeerfahren. Diese Erfahrung von knapp 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, die sich bereits in ihrer Familie oder im Freundkreis aktiv an Pflegeaufgaben beteiligt haben, sie gilt es stärker zu aktivieren. Eine solidarische Gesellschaft überlässt die Sorge und Pflege ihrer vulnerablen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht sozialstaatlichen Agenturen, sondern verlässt den Zuschauerplatz beim sich anbahnenden Schiffbruch einer dienstleistungsorientierten Pflegelogik.
Die Boomer, die aktuell als Pflegende und demnächst als zu Pflegende in besonderer Weise mit den Herausforderungen der demografischen Transformation konfrontiert sein werden, sie sind auch zivilgesellschaftlich und politisch gefragt. 90 Prozent der Bevölkerung sehen in dem Pflegethema eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen. Das muss sich auch im Engagement sowohl politisch als auch vor Ort niederschlagen. Die Boomer sind das Problem und die Lösung zugleich – Lösung aber nur, wenn sie sich auch pflegepolitisch auf den Weg machen.
Was sind für Sie erfüllende Momente in einer Pflegesituation?
Der Blick in das Antlitz meines Gegenübers, die Berührung, das Still- und Zeitloswerden auch die bisweilen humorvolle Wendung von Beschwernissen und Unzulänglichkeiten des Alltages. Gerade Menschen mit Demenz haben mir so manchen Einblick in die Geheimnisse unserer Existenz gegeben. Sie möchte ich nicht missen.
Es gibt zwar lokal einige Möglichkeiten für pflegende Angehörige, sich zu vernetzen und auszutauschen. Auch ihre Arbeit wird hier honoriert. Auf Bundesebene sucht man bislang aber vergebens nach einer Interessenvertretung für Laienpflegende. Woran liegt das? Ein Kommentar unserer Redakteurin Britta Waldmann.