Zuerst müssen wir uns als Gesellschaft die Frage stellen, was uns Pflege künftig wert sein soll.
Frau Moll, unser Pflegesystem steht vor dem Kollaps. Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptursachen für die derzeitige Misere?
Das Hauptproblem sehe ich darin, dass die Generation der Babyboomer demnächst in Rente geht. Viele von ihnen werden pflegebedürftig. Das heißt: Wir werden nie wieder so viele Pflegekräfte haben, wohl kaum mehr Geld, aber sicher mehr Menschen mit Pflegebedarf. Daher sage ich schon seit Langem: Wir müssen Pflege neu denken, damit auch zukünftig alle Menschen mit Pflegebedarf ein selbstbestimmtes Leben führen können. Gerade im Bereich der Pflegeversicherung passen viele Leistungen einfach nicht mehr in die heutige Zeit, sind zu kleinteilig, zu unflexibel und zu bürokratisch.
Fachkräftemangel, Unterfinanzierung, steigender Pflegebedarf – das sind bekannte Hiobsbotschaften, die offensichtlich nicht allein durch eine Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge zu heilen sind. Welche Perspektive können Sie uns geben?
Wir haben in den vergangenen Jahren schon wichtige Schritte unternommen, die Anlass zur Hoffnung geben. Es wird künftig einfacher werden, weil wir einige Grundlagen gelegt haben, beispielsweise für gemeinschaftliche Wohnformen, für Mehrgenerationenhäuser und auch, um die Pflege vor Ort zu stärken. Ich bin der festen Überzeugung: Die Zukunft liegt in der Pflege im Quartier, damit alle Menschen dort gut leben können, wo sie sich verbunden fühlen. Damit würde auch das Thema Einsamkeit im Alter angegangen. Viele Kommunen nehmen sich dieser Aufgabe auch bereits an und finden innovative und mutige Lösungen. Das wollen wir aber auch in die Fläche bringen. Hierfür hat das Pflegekompetenzgesetz gute Ideen unterbreitet, weshalb es mir auch so wichtig ist, dass wir hier dranbleiben.
Das Gesetz soll Pflegefachpersonen mehr Entscheidungskraft in der Praxis geben und ihnen mehr Kompetenzen im Alltag zugestehen und diese gesetzlich verankern. Es soll zudem bundeseinheitliche Regelung zur Ausübung von heilkundlichen Leistungen bieten. Auch Regelungen zu neuen Wohnformen sind im Pflegekompetenzgesetz enthalten und schaffen eine gute Verbindung von pflegenden Angehörigen und professionellen Pflegepersonen.
Das Pflegekompetenzgesetz stand vor dem Ampel-Aus kurz vor der Beratung im Bundestag und sollte Anfang November vom Bundeskabinett als Gesetzentwurf beschlossen werden. Alle Parteien sind sich bei diesem Gesetz, das jetzt erst aufgeschoben wird, einig. Es kann also von einer neuen Regierung zeitnah verabschiedet werden.
In einigen Regionen haben sich Pflegestützpunkte und Gesundheitskioske bewährt, jedoch gibt es oftmals noch nicht genug kommunale Anlauf- und Beratungsstellen. Mittlerweile wird die Notwendigkeit dieser aber erkannt und man arbeitet auf Gemeindeebene daran, das Netz weiter auszubauen, damit Pflegebedürftige und ihre Angehörigen eine Ansprechperson vor Ort haben.
Wir brauchen künftig aber noch weitere gemeindenahe Lösungen, wie zum Beispiel die Community Health Nurses. Hier bin ich zuversichtlich, dass mit den aktuellen Gesetzesentwürfen, die nun in der Schublade liegen, auch von einer neuen Regierung zeitnah weiterbetrieben werden. Denn eines muss uns allen klar sein: Die Pflege unserer Gesellschaft kann nicht nur auf ehrenamtlichen Strukturen aufbauen. Nachbarschafts- und Familienhilfe ist gut, ja sogar unabdingbar. Aber wir brauchen auch dringend professionelle Pflegende, die den pflegenden Angehörigen beispielsweise Anleitung geben, sie schulen oder eben auch Entlastung bieten. Denn niemandem ist damit geholfen, wenn die pflegenden Angehörigen aufgrund der physischen und psychischen Belastungen in die Knie gehen. Wir müssen die pflegenden Angehörigen mit aller Macht und auf allen Ebenen stärken. Auch hier gibt es bereits gute Vorschläge.
Das hört sich gut an, wird aber auch Geld kosten. Wie könnte das finanziert werden?
Zuerst müssen wir uns als Gesellschaft die Frage stellen, was uns Pflege künftig wert sein soll. Hier muss ein Umdenken stattfinden, denn ich glaube nicht, dass wir die Pflege weiterhin so finanzieren können, wie es derzeitig gemacht wird. Meiner Meinung nach müssen mehr Steuergelder ins System fließen, damit die Pflege auch in Zukunft menschenwürdig, selbstbestimmt und bezahlbar ist.
Apropos was uns Pflege wert ist: In der Regel sind es Frauen, die die Pflege von Familienangehörigen übernehmen. Das ist meist nicht mit dem Beruf vereinbar. Viele reduzieren die Arbeit mit weitreichenden – auch finanziellen – Folgen. Halten Sie die finanzielle Unterstützung pflegender Angehöriger hierzulande für angemessen und was könnte aus Ihrer Sicht verbessert werden?
Zuerst möchte ich gerne auf die Angemessenheit eingehen: Pflegende Angehörige benötigen Unterstützung, Entlastung und auch Anerkennung. Dies gelingt uns als Gesellschaft jedoch noch zu wenig. Ich hatte die Vorschläge gerade erwähnt. So brauchen wir vor allem eine bessere finanzielle Unterstützung. Daher fordere ich – wie auch beispielsweise der Sozialverband VdK – Lohnersatzleistungen. Auch die Anerkennung der Pflegezeit bei der Rente muss noch mehr in den Fokus rücken. Doch leider geht es in der Politik nicht nur nach meinen Forderungen. Ich werde mich jedoch auch weiterhin dafür einsetzen, dass pflegende Angehörige besser finanziell entlastet werden.
Ich appelliere aber auch an die pflegenden Angehörigen selbst: Nutzen Sie die Ansprüche, die Sie haben. Informieren Sie sich und nutzen Sie vorhanden Angebote und Leistungsansprüche!
Was ist aus Ihrer Sicht noch dringend notwendig, um die Situation pflegender Angehöriger zu verbessern?
Auch wenn es kein angenehmes Thema ist, rate ich allen Menschen, frühzeitig das Gespräch miteinander zu führen – nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wie stellen sich beispielsweise die eigenen Eltern ihre Zukunft vor? Welche Wohnform wollen sie? Muss das Haus, die Wohnung rechtzeitig barrierefreier werden? Das sind Punkte, die man bereits im Vorfeld klären kann.
Daneben müssen wir die Tages- und Kurzzeitpflegeplätze massiv ausbauen. Gerade die Tagespflege ist aus meiner Sicht für die Unterstützung der pflegenden Angehörigen extrem wichtig, um sich – vor allem im Kontext der Selbstfürsorge – Auszeiten zu schaffen, damit man möglichst lange für seine Lieben da sein kann. Dazu gehört aber auch, die zu pflegenden Angehörigen für einen Zeitraum in die Tagespflege geben zu können, um wieder Kraft zu schöpfen.
Die Pflege unserer Gesellschaft kann nicht nur auf ehrenamtlichen Strukturen aufbauen.
Ein großes Thema ist aus meiner Sicht auch der Bereich Prävention und Rehabilitation. Auch hier spielen pflegende Angehörige eine immens wichtige Rolle. Was können sie dazu beitragen, um die Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich hinauszuzögern? Gesundheitsförderung und Prävention hört auch im Alter nicht auf. Was wir brauchen, sind passgenaue Angebote, auch für Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen. Hier reden wir jedoch über Maßnahmen, die bereits viel früher einsetzen müssen. Da wären wir dann wieder beim Thema Pflege und Leben im Quartier.
Neben dem, was nötig ist, haben wir auch einiges geschafft: Ab kommenden Juni wird das Geld für die Verhinderungspflege flexibel ausgezahlt. Das ist gerade für pflegende Angehörige schwerstkranker Kinder eine enorme Entlastung. Denn sie wissen am besten, wie das Geld für ihre Kinder ausgegeben werden sollte.
In Nordrhein-Westfalen kann dazu der monatliche Entlastungsbetrag von 125 Euro sehr viel einfacher und unbürokratischer ausgezahlt werden. Das muss nun dringend auf alle Bundesländer ausgeweitet werden. Wir haben einen viel unbürokratischeren Weg bereit in das Pflegekompetenzgesetz geschrieben, aber dessen Ausgang ist ja nun ungewiss. Aber ich bleibe dran.
Hätten Sie heute fünf Wünsche frei, was würden Sie sich für die Pflege und für pflegende Angehörige in Deutschland wünschen?
Mein großer Wunsch ist es eben, dass das Pflegekompetenzgesetz ganz schnell verabschiedet wird und Inkrafttreten kann. Es wird dringend für die Profession Pflege und die Festlegung ihrer Kompetenzen benötigt. Auch für die pflegenden Angehörigen hätte dies positive Effekte. So könnten beispielsweise Pflegefachpersonen selbstständig Heil- und Hilfsmittel verordnen, es würde die Versorgung der Pflegebedürftigen in der eigenen Häuslichkeit quantitativ und qualitativ verbessert werden. Denn es sind die Pflegefachpersonen, die sich Tag für Tag um die pflegebedürftigen Menschen kümmern und sie sehen und die damit auch die pflegenden Angehörigen passgenau entlasten können.
Auch das Pflegefachassistenzgesetz wünsche ich mir schnell, weil ich mir sicher bin, dass auch dieses dazu beitragen wird, die Versorgung der Pflegebedürftigen – auch und gerade in der eigenen Häuslichkeit – qualitativ zu verbessern. Dennoch möchte ich entschieden darauf hinweisen, dass wir verglichen zum Beispiel mit den USA ein gutes Sozialsystem haben. Was nicht heißt, dass wir an einigen Stellen besser werden können oder vielmehr müssen.
Dieses Gesetz stand bereits kurz vor der Beratung im Bundestag. Man hat sich mit diesem Gesetz erstmals auf eine bundesweit einheitliche Ausbildung im Bereich der Pflegeassistenz geeinigt. Ab 2027 hätte – sofern das Gesetz den normen Lauf genommen hätte und nicht durch das frühzeitige Ampel-Aus verzögert worden wäre – einheitlich eine 18-monatige Ausbildungszeit greifen; die bis dahin 27 unterschiedlichen landesrechtlichen Ausbildungen wären damit abgelöst worden.
Das Gesetz dient dazu, Pflegefachassistenzpersonen besser und einheitlich zu qualifizieren, damit sie künftig mehr Verantwortung im Pflegeprozess übernehmen können. So soll es künftig Pflegefachassistenzen möglich sein, auch bundeslandübergreifend ihren Beruf ausüben zu können.
Daher würde ich mir des Weiteren wünschen, dass wir endlich die 24-Stundenbetreuung aus der gesetzlichen Grauzone herausbekommen. Es geht nicht nur um die Frauen, die hier ins Land kommen und unsere Pflegebedürftigen mitbetreuen. Es geht auch um die Familien, die ggf. irgendwann mit Nachzahlungsansprüchen konfrontiert werden. Das haben wir in den vergangenen zwei Jahren versucht und es liegen auch hier ausgearbeitete Gesetzesvorschläge in der Schublade. Diese würde ich gerne zeitnah mit einer neuen Regierung umsetzen.
Das waren drei Wünsche…
Zudem wäre es toll, wenn es in jeder Kommune eine Pflegeberatungsstelle gäbe. Diese können u. a. auch über das Einsetzen von digitalen oder ehrenamtlichen Helfern Auskunft geben und darüber, wie diese finanziert werden können.
Generell sollten die Potenziale der Digitalisierung künftig viel mehr genutzt werden. Digitale Dokumentation und Kommunikation können die Pflegekräfte in der professionellen Pflege entlasten und Abläufe vereinfachen. Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe. Hier kann Telemedizin helfen und auch pflegende Angehörige entlasten, indem es ihnen Sicherheit gibt, da ihre Angehörigen auch weiterhin medizinisch engmaschig betreut werden. Denn: Auch entsprechend ausgebildete Pflegekräfte können mithilfe von Telemedizin immobile Menschen regelmäßig besuchen und im Blick haben und sich eng mit dem behandelnden Hausarzt abstimmen oder Probleme direkt mit ihm erörtern. So verringern telemedizinische Beratungen erwiesenermaßen die Anzahl der Einweisungen, die immer das Risiko von Komplikationen mit sich bringen.
Die gerade beschriebenen Vorteile der Telemedizin und Telepflege agieren in einem Feld, in dem insbesondere die professionelle Pflege für Entlastung ohne Qualitätsverlust sorgen kann. Ich hatte vorher bereits Community Health Nursing angesprochen. Ein Konzept das vereinfacht gesagt, das pflegerische Berufsbild in der Primärversorgung prägen und als erste Anlaufstelle dienen kann.
Die 55-jährige Claudia Moll (SPD) ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2022 Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege. Die gelernte Altenpflegerin mit Zusatzqualifikation in der Gerontopsychiatrie ist eine von insgesamt fünf Frauen im Bundestag mit Pflegeexpertise. Vor ihrem Einzug in den Bundestag war Moll fast 30 Jahre im Bereich der Altenpflege tätig. Sie engagiert sich unter anderem im Ausschuss Gesundheit für gesundheitspolitische Themen und vertritt als überparteiliche Pflegebevollmächtigte die Interessen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen.