Offenes Bein: Was die chronische Wunde für das Leben der Angehörigen bedeutet

Offenes Bein: Was die chronische Wunde für das Leben der Angehörigen bedeutet

Die Diagnose „offenes Bein“ ist nicht nur für die betroffenen Patienten eine Herausforderung. Auch das Leben der Angehörigen verändert sich – so auch Katrins. Wie sie den Alltag meistert und dabei ihre Beruf und die Versorgung ihrer Mutter Ina vereinbart.

Eine Tochter und ihre Mutter, die ein offenes Bein hat, gehen spazieren.
GettyImages/grandriver
Inhaltsverzeichnis
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    Früher war ihre Mutter ein aktiver, fröhlicher Mensch, erinnert sich Katrin S. (Name geändert). „Sie hatte einen großen Freundeskreis und ist viel rausgegangen. Bis die chronische Wunde kam. Da hat sie sich plötzlich komplett zurückgezogen.“ Katrin ist 42 Jahre und lebt in Hamburg, wie auch ihre Mutter Ina. Früher haben die beiden sich vielleicht einmal die Woche gesehen. Sie haben zusammen gefrühstückt oder einen Spaziergang an der Alster gemacht. Heute ist sie täglich bei ihrer 78-jährigen Mutter. Jeden Morgen geht sie zu ihr, mit Fahrtzeit ist sie mindestens drei Stunden pro Tag unterwegs.

    Wie sich ein „offenes Bein“ bemerkbar macht

    Im Frühjahr fiel Katrin auf, dass ihre Mutter nicht mehr rausgehen wollte. „Das war ganz untypisch und ich habe nachgehakt. Sie habe so Schmerzen, hat sie herumgedruckst“, erzählt Katrin. „Sie hat sich geschämt, das habe ich gemerkt. Als sie mir dann ihren Unterschenkel zeigte, war ich erschrocken.“ Dort war an der Außenseite eine etwa drei mal fünf Zentimeter große Wunde zu sehen, eitrig belegt, mit roten Wundrändern und leicht unangenehm riechend. Ihre Mutter erzählte ihr, dass ihr die Wunde erst gar nicht so richtig aufgefallen sei. Sie habe einfach ein Pflaster draufgepackt und dachte, das wird schon heilen. Bis irgendwann jede kleine Bewegung weh tat und sie vor Schmerz nicht mehr schlafen konnte.

    „Ich habe sie überzeugen können, direkt mit mir zum Arzt zu gehen. Ihr war das sehr unangenehm. Der Hausarzt hat sich die Wunde angesehen und war sichtlich besorgt. Er hat uns dann gleich einen Termin im Wundzentrum im Augusta Krankenhaus besorgt. Das war super, weil dort Ärzte und Wundexperten sind, die sich wirklich gut auskennen.“ Sie stellten den beiden viele Fragen und führten einige Untersuchungen durch. Die Diagnose der Ärztin: „offenes Bein“ oder medizinisch korrekt Ulcus Cruris Venosum. Dabei handelt es sich um eine schlecht oder schwer heilende offene Wunde, früher auch Unterschenkelgeschwür genannt.

    Ein „offenes Bein“ – häufig im höheren Alter

    Tochter und Mutter hatten noch nie etwas von einem Unterschenkelgeschwür oder „offenem Bein“ gehört. Sie lernten von dem Team im Wundzentrum, dass viele ältere Menschen an einem Ulcus Cruris Venosum leiden. Bei den 70- bis 79-Jährigen sind es etwa 2,7 Prozent. Die Wunden sind – wie der Name schon sagt – venös bedingt. Denn die Venen, die das Blut zurück zum Herzen bringen, müssen täglich große Mengen Blut transportieren. Wenn die Pumpleistung der Venen geschwächt ist oder die Venenklappen nicht mehr richtig funktionieren, kann es zu einem Blutstau kommen. Dadurch sammelt sich Wasser im Gewebe an und übt einen großen Druck aus. In der Folge kann die Haut aufbrechen und es kann sich ein „offenes Bein“ bilden.

    „Meine Mama war froh, dass es eine klare Ursache für ihre Wunde gab“, sagt Katrin. „Die Ärztin und der Wundexperte waren auch sehr nett und haben uns das alles in Ruhe erklärt.“ Dazu gehörte auch, welche Risikofaktoren es für ein sogenanntes offenes Bein gibt, wie zum Beispiel Krampfadern, Übergewicht, Bewegungsmangel, Rauchen und eine familiäre Veranlagung. Ina hat fast alle Risikofaktoren, aber immerhin hat sie sich früher gerne bewegt. „Die Ärztin hat natürlich gesagt, wie wichtig es wäre, mit dem Rauchen aufzuhören. Aber da hat meine Mutter gleich gesagt: ‚Weniger rauchen geht in Ordnung, aber ganz aufhören – das will ich in meinem Alter nicht mehr.‘“

    Kompressionstherapie ist die wichtigste Maßnahme

    Der Wundexperte reinigte die Unterschenkelwunde, entfernte die Beläge und erklärte Tochter und Mutter die Therapie. Für ein „offenes Bein“ gibt es spezielle moderne Wundverbände. Die halten die Wunde feucht und haben den Vorteil, dass sie nicht so oft gewechselt werden müssen. Wichtig sei aber vor allem eine Kompressionstherapie, sagte der Wundexperte. Das heißt, Ina muss tagsüber immer einen Kompressionsverband an den Unterschenkeln tragen, der zur Nacht abgelegt werden kann.

    Dieser Kompressionsverband drückt die Venen zusammen, was die Stauung löst und den Rücktransport des Blutes erleichtert. Dadurch heilt ein „offenes Bein“ schneller ab. Auch empfahl der Wundexperte Ina, sich viel zu bewegen und ihre Krampfadern bald operieren zu lassen, damit es nach der Wundbehandlung nicht zu einem Rückfall kommt.

    „Als ich das alles gehört habe, dachte ich nur: oh nein!“, sagt Katrin. „Mir war schon klar, dass das mit dem Kompressionsverband und Verbandwechsel an mir hängen bleiben würde.“ Sie hat zwar zwei Geschwister, aber ihre Schwester hat drei Kinder und wohnt 40 Kilometer entfernt. Und ihr Bruder lebt in München und kommt vielleicht zweimal im Jahr. Katrin ist freiberufliche Grafikerin. Sie ist zwar relativ frei in ihrer Zeiteinteilung, aber sie muss zuverlässig liefern, um ihre Kunden zu halten. „Ich habe gleich geahnt, dass ich das Pensum, was ich jetzt habe, mit diesem neuen Aufgabenpaket nicht schaffen werde.“

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    „Offenes Bein“ – so sieht der Alltag aus

    Zwei Monate liegt der erste Termin im Wundzentrum und der Diagnose „offenes Bein“ nun zurück. Inas und auch Katrins Leben haben sich seitdem sehr geändert. Jeder Morgen beginnt nun mit dem Anziehen der Kompressionsstrümpfe. Ina hat ein zweilagiges Ulkus-Kompressionsstrumpf-System. Dieses System wird in der aktuellen Leitlinie auch empfohlen, hat ihnen der Wundexperte erklärt. Es besteht aus einem Unter- und einem Oberstrumpf. Der untere Strumpf kann 24 Stunden getragen werden, der obere wird morgens angelegt und tagsüber während der mobilen Phasen getragen. Zur Nacht wird der Oberstrumpf dann wieder abgelegt.

    „Ich habe so einiges versucht, um nicht jeden Tag zu meiner Mutter zu müssen“, sagt die Grafikerin. „Erst dachte ich: Mit ein bisschen Anleitung wird sie das wohl selbst hinbekommen, und habe ihr das mit den Strümpfen ganz genau erklärt.“ Aber es klappte nicht. Schaute sie in ihrer Mittagspause unangekündigt vorbei, saß ihre Mutter noch im Schlafanzug in der Küche – natürlich ohne Oberstrumpf. Oder der Strumpf hing auf Halbmast – „von Kompression konnte da keine Rede sein“. Dann habe sie versucht, einen Pflegedienst zu engagieren. „Aber die kamen meist sehr spät, oft erst um 11 Uhr. Bis dahin war meine Mutter schon vier Stunden ohne Kompression herumgelaufen.“

    „Hauptsache, das offene Bein heilt bald“

    So entschied sich Katrin, die Versorgung selbst zu übernehmen – in der Hoffnung, dass die Wunde am Bein schnell abheilt und sie danach wieder mehr Freiraum hat. Nach dem Aufstehen radelt sie in der Früh zu Ina, zieht ihr die Oberstrümpfe an und macht ein paar gymnastische Übungen mit ihr. Sie frühstücken zusammen – mit vielen Ballaststoffen und Vitaminen – und gehen noch eine kleine Runde um den Block. Katrin weiß, wie wichtig Bewegung und eine gute Ernährung für die Wundheilung sind.

    Auch erinnert sie Ina, nicht so viel zu rauchen und im Sessel ihre Beine erhöht zu lagern, damit das Blut gut zurückfließen kann. Das vergisst sie schon mal gerne. Neben dem Sessel liegen einige Karten mit Übungen für die Durchblutung: Fersen- und Zehenstand, Fußkreisen, Füße heben und senken und so weiter. Ob Ina diese Übungen wie versprochen mittags macht, weiß ihre Tochter nicht sicher. Aber sie hofft es zumindest.

    Alle drei Tage wechselt Katrin den Wundverband, reinigt die Wunde am Bein und verbindet sie wieder. Auch das hatte ihr der Wundexperte gezeigt. „Erst habe ich mich ein wenig geekelt“, sagt sie. „Aber mittlerweile geht das erstaunlich gut. Es wäre viel aufwendiger, wenn ich sie dafür immer zum Hausarzt fahren müsste. Hauptsache, das offene Bein heilt bald. Dafür würde ich fast alles machen.“

    Durchhalten und hoffen, dass es besser wird

    Katrin merkt, wie sich ihr Leben mehr und mehr um die Wunde dreht. Es ist ja nicht nur die umfassende morgendliche Versorgung des „offenen Beins“. Sie organisiert die Arzttermine, beschafft die Wundmaterialien und telefoniert mit der Krankenkasse wegen der Kostenübernahme. Denn das Verbandmaterial ist teuer und nicht alle Materialien zahlt die Kasse. „Zum Glück hat meine Mama eine gute Witwenrente und bekommt das finanziell einigermaßen gestemmt.“ Auch ist sie froh, dass Ina mit ihrer Wunde weiter selbstständig einkaufen geht und wie früher selbst kocht. Mittlerweile schafft Ina es auch gut, ihre Strümpfe abends allein auszuziehen.

    Ihre Freiberuflichkeit organisiert Katrin so, dass es mit den Terminen bei ihrer Mutter passt. Sie versucht, immer dann zu arbeiten, wann es geht – oft sitzt sie abends länger und arbeitet auch an fast jedem Wochenende. Darunter leiden vor allem ihre sozialen Kontakte. Zeit für ihre Freunde oder Sport hat sie so gut wie gar nicht mehr. „Ich wünschte wirklich, dass ich etwas mehr Zeit für mich hätte. Aber im Moment versuche ich, einfach durchzuhalten, und hoffe, dass Inas offenes Bein bald besser wird.“

    Von ihren Geschwistern fühlt sie sich alleingelassen. „Manchmal merke ich, dass ich ganz schön wütend auf sie bin. Sie beschäftigen sich nicht mit dem Thema ‚offenes Bein‘, kümmern sich so gut wie gar nicht.“ Vor ein paar Wochen hat sie erst ihren Bruder und dann ihre Schwester angerufen und ihnen mal ehrlich gesagt, wie belastend das alles für sie ist. „Mein Bruder hat ziemlich blöd reagiert und gesagt: ‚Du hast doch keinen Mann und keine Kinder, du hast doch Zeit.‘ Tina war aber sehr verständnisvoll und hat gleich angeboten jedes zweite Wochenende nach Hamburg zu kommen und die Versorgung von Mama zu übernehmen. Allein das ist eine große Erleichterung.“

    „Offenes Bein“: Es braucht Zeit und Geduld

    Jedes Mal, wenn Katrin den Wundverband abnimmt, ist sie aufs Neue nervös und hofft auf eine deutliche Besserung. Tatsächlich ist die Wunde etwas kleiner geworden, das Wundsekret wird weniger und das „offene Bein“ schmerzt kaum noch. „Die Ärztin im Wundzentrum ist zufrieden und das ist schon mal gut. Sie meint, dass die Wunde in mehreren Wochen abheilen wird. Wenn Mama bloß mit dem Rauchen aufhören würde. Dann ginge es auch schneller mit der Wundheilung. Aber da beiße ich bislang auf Granit.“

    Katrin hofft, dass das „offene Bein“ bald Geschichte ist. Sie weiß mittlerweile jedoch, dass chronische Wunden Zeit und Geduld brauchen. Daher versucht sie, die kleinen positiven Entwicklungen zu sehen: dass Ina sich wieder mehr bewegt, sie fünf Kilogramm abgenommen hat und oft wieder fröhlich mit ihren Freundinnen telefoniert – alles Faktoren, die sich positiv auf ein „offenes Bein“ auswirken können. „Es hat sich schon eine ganze Menge getan“, findet sie. „Den Rest schaffen wir auch.“

    Dieser persönliche Bericht wurde als typisches Beispiel aus unterschiedlichen Fallgeschichten zusammengestellt.

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