Mangelernährung: Gesund zunehmen
Die Kleidung sitzt plötzlich locker, und die Portionen auf dem Teller werden immer kleiner. Manchmal klagen die Betroffenen auch über Appetitlosigkeit oder Kau- und Schluckbeschwerden. Das sind typische Anzeichen, durch die eine Mangelernährung auffällt. „Meist hat die Person schon mehrere Kilo abgenommen, bevor sie ihren Hausarzt auf die Gewichtsabnahme anspricht“, sagt Dr. Angela Jordan, Diätassistentin und Diplom-Oecotrophologin.
Die freiberufliche Ernährungstherapeutin berät Patientinnen und Patienten sowie Angehörige in schwierigen Ernährungssituationen. Viele Krebspatientinnen und -patienten kommen zu ihr, aber auch Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen, Schlaganfall- und Dialysepatientinnen und -patienten sowie ältere Menschen. Jordan unterstützt sie dabei, eine ausreichende Ernährung sicherzustellen, und vermittelt ihnen Strategien, die das Essen und Trinken erleichtern.
Risikogruppen für Mangelernährung
- Menschen in fortgeschrittenem Alter
- Patientinnen und Patienten mit Tumorerkrankungen
- Patientinnen und Patienten mit Erkrankungen des Verdauungstrakts
- Patientinnen und Patienten mit schwerwiegender Grunderkrankung (hohe Anzahl an Medikamenten)
Quelle: DGE-Praxiswissen: Mangelernährung in Kliniken (2018)
Teufelskreis aus Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust
Eine Mangelernährung ist laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) ein Zustand, bei dem die Zufuhr oder Aufnahme von Energie und Nährstoffen über die Nahrung nicht ausreichend ist. Die Folgen können schwerwiegend sein. „Sie reichen von Konzentrationsschwäche über Einbußen der körperlichen Leistungsfähigkeit bis zu depressiven Verstimmungen“, weiß Jordan. Der Immunstatus verschlechtert sich und medizinische Komplikationen wie Infektionen nehmen zu.
Ein besonderes Problem ist, dass die Betroffenen sehr schnell Muskelmasse verlieren. „Die Betroffenen fühlen sich schwächer und haben weniger Kraft. Sie stürzen dann schneller, oft ist ein Knochenbruch die Folge“, hält Jordan fest. Das sei meist der erste Schritt in die Pflegebedürftigkeit. Nicht selten sei ein Teufelskreis zu beobachten: Wird weniger gegessen, folgen ein Gewichtsverlust und zunehmende Schwäche, die wiederum die Essenszubereitung und -aufnahme beschwerlicher macht.
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist es wichtig, einen Gewichtsverlust frühzeitig zu erkennen und rasch zu handeln. Wichtig sind dabei regelmäßige Gewichtskontrollen, aber auch die Beobachtung der Mahlzeiten, vor allem bei Menschen, die allein leben. „Gerade bei älteren Menschen sehen wir häufig, dass sie auf Lebensmittel umsteigen, die schnell zuzubereiten sind, aber nur wenig Nährstoffe enthalten, zum Beispiel Grießbrei oder Pudding“, berichtet Jordan. Wenn ältere Menschen Essen auf Rädern bekommen, empfiehlt sie den Angehörigen, sich bei den Mahlzeiten mal dazuzusetzen und zu schauen: Werden die Portionen auch wirklich komplett gegessen?
Die Ernährungstherapeutin rät, zur behandelnden Hausärztin oder zum behandelnden Hausarzt bzw. zur Fachärztin oder zum Facharzt zu gehen, sobald Ernährungsprobleme oder ein Gewichtsverlust auftreten. Je früher man die Ursache für das Problem finde, um so gezielter könne man behandeln.
Mit kleinen Maßnahmen die Essmengen steigern
Das Ziel einer Ernährungsbetreuung ist, den Teufelskreis aus Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und Mangelernährung zu durchbrechen. Viele relativ einfache Maßnahmen können dazu beitragen, dass die Betroffenen wieder mehr essen und sich zunehmend wohlerfühlen.
Schritt 1 – Individuelle Ernährungsänderung
Als ersten Schritt empfiehlt Jordan eine Wunschkost mit Speisen, die reich an Nährstoffen und Eiweiß sind. Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte und Vollkornprodukte sorgen für ausreichend Vitamine und Spurenelemente. Milchprodukte, Eier und in Maßen auch Fisch und Fleisch sind gute Eiweißquellen. „Menschen mit einer Mangelernährung haben oft wenig Appetit und können nicht mehr so große Mengen essen“, weiß die Ernährungstherapeutin. Sie empfiehlt deshalb Nahrungsmittel mit einer hohen Energiedichte – die also viele Nährstoffe und Kalorien in kleinen Portionen beinhalten.
„Viele Nahrungsmittel lassen sich kalorisch anreichern, zum Beispiel mit pflanzlichen Ölen wie Raps-, Oliven- und Walnussöl“, empfiehlt Jordan. Auch Nüsse und Saaten können der Nahrung untergemischt werden, bei Bedarf in gemahlener Form. „Oft sind gerade bei Menschen mit Ernährungsproblemen der Magerquark und die fettarme Milch im Kühlschrank zu finden“, berichtet Jordan. Sie rät, auf Milchprodukte mit einen normalen Fettanteil und möglichst viel Eiweiß umzuschwenken. Quark enthalte z. B. 13,5 Gramm Eiweiß auf 100 Gramm, Joghurt nur 3,5 Gramm.
Schritt 2 – Energiedichte der Speisen steigern
Wenn diese Maßnahmen nicht ausreichen, um eine Gewichtszunahme zu fördern, folge der nächste Schritt: Die Wunschkost wird mit hochwertigen Eiweißkonzentraten oder Maltodextrin als Kohlenhydrat angereichert. Dadurch lasse sich die Energiezufuhr steigern, ohne die Menge der zu essenden Speisen zu erhöhen. Auch könne es hilfreich sein, einen individuellen Speise- und Trinkplan zu erstellen, in dem auch Zwischenmahlzeiten eingeplant werden.
Das Auge isst ebenfalls mit. „Essen ist viel mehr als reine Nährstoffzufuhr und sollte mit Genuss und Geselligkeit verbunden sein“, sagt Jordan. Sie rät deshalb, möglichst oft gemeinsam zu essen und die Mahlzeiten und Speisen schön zu gestalten. Zur Scheibe Brot können z. B. ein paar Gurkenscheiben gereicht werden. Ein kleiner Salat oder Obstkompott bringe etwas Farbe auf den Tisch. Auch können Hilfsmittel wie Besteck mit Griffverstärkung oder Tellerranderhöhungen dabei unterstützen, dass Betroffene wieder möglichst selbstständig essen, wenn bspw. nach einem Schlaganfall einseitige Bewegungseinschränkungen vorliegen.
Schritt 3 – Trink- und Zusatznahrung
Sind diese Maßnahmen nicht erfolgreich, kann industriell hergestellte, vollbilanzierte Trinknahrung zum Einsatz kommen. Ein Milliliter Trinknahrung enthält in der Regel bis zu 2 Kilokalorien, die Energiedichte ist also sehr hoch. „Die Betroffenen sollten die Trinknahrung möglichst zwischen den Mahlzeiten oder als Spätmahlzeit zu sich nehmen, um zu vermeiden, dass sie bei den Hauptmahlzeiten zu früh satt sind“, empfiehlt Jordan.
Schritt 4 – Künstliche Ernährung über Sonde oder Infusion
Wenn Essen und Trinken zunehmend belastender werden und das Gewicht trotz aller bisher genannten Maßnahmen weiter nach unten geht, kann eine künstliche Ernährung infrage kommen.
Bei der künstlichen enteralen Ernährung wird den Betroffenen über eine PEG-Ernährungssonde eine Sondenkost verabreicht, die alle wichtigen Nährstoffe enthält (PEG = perkutane endoskopische Gastrostomie). Bei der künstlichen parenteralen Ernährung wird die Nährlösung über eine Infusion gegeben, sodass der Magen-Darm-Trakt umgangen wird. Das kann erforderlich sein, wenn der Darm die Nährstoffe aus der Nahrung nicht ausreichend aufnehmen kann, z. B. bei speziellen Erkrankungen oder Tumoren im Verdauungstrakt. „Hiermit können gezielt Ernährungslücken geschlossen werden, bis sich die Ernährungssituation wieder verbessert und wieder komplett normal gegessen werden kann“, betont die Ernährungstherapeutin.
Wie finde ich die richtige Ernährungsberatung?
Wenn die zu Pflegenden Probleme mit chronischer Mangelernährung haben, kann die Hausärztin oder der Hausarzt direkt eine Ernährungsberatung verordnen. Eine Kostenübernahme (anteilig) durch die gesetzlichen Krankenkassen ist möglich. Dabei ist es erforderlich, dass die Ernährungsberatung durch Diätassistentinnen oder Diätassistenten und Ökotrophologinnen oder Ökotrophologen erfolgt. Fragen Sie dazu Ihre Hausärztin oder Ihren Hausarzt, ob sie oder er mit einer Ernährungstherapeutin oder einem Ernährungstherapeuten zusammenarbeitet. Auf folgenden Webseiten können Sie auch Ihre Postleitzahl angeben und eine fundierte Ernährungsberatung in Ihrer Nähe finden: Verband der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband e. V. (VDD): www.vdd.de, Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE): www.dge.de (unter Service), BerufsVerband Oecotrophologie e. V. (VDOE): www.vdoe.de (unter VDOE-Expertenpool).
Mit jedem Kilogramm mehr steigt die Lebensqualität
Für Angehörige ist es oft belastend, wenn es mit dem Essen nicht klappt und ihr erkrankter Angehöriger weiter abnimmt“, weiß Jordan aus ihrer Beratungspraxis. Dabei könne vielen Menschen mit Ernährungsproblemen bereits mit einfachen Maßnahmen geholfen werden.
Eine besondere Herausforderung sei eine vorliegende Demenz. „Menschen mit Demenz können nicht sagen, wenn das Gebiss drückt, sie nicht mehr mit Besteck umzugehen wissen oder das Essen zu schnell angereicht wird.“ Hier seien eine gute Beobachtung und kreative Maßnahmen gefragt, um die Nahrungsaufnahme zu fördern. Das kann z. B. mit Fingerfood gelingen, also mit Speisen, die mit den Fingern statt mit Besteck gegessen werden.
Generell gilt: Mit jedem Kilogramm, das die Patientin oder der Patient zunimmt, geht es vorwärts. „Das alte Gewicht können wir nicht immer wieder erreichen“, weiß Jordan, „aber mit jedem Kilo mehr erreichen wir einen enormen Zuwachs an Lebensqualität.“