Trauer nach der Pflege: „Ein unbeschreiblicher Zustand, wenn die Pflegesituation wegbricht“

Frau Dirscherl, warum braucht es die Gruppe „Trauer in/nach der Pflege“?
Dirscherl: Diese Trauergruppe ist entstanden, weil sich viele Mitglieder nach dem Tod des pflegebedürftigen aus der großen Gruppe verabschiedet haben. Sie waren der Meinung, nicht mehr zu der Gruppe der pflegenden Angehörigen zu gehören. Das fanden wir schade und es tut auch den Mitgliedern nicht gut, plötzlich allein dazustehen.
Warum ist es wichtig, dass es auch nach dem Ende einer Pflegesituation für diejenigen, die sich in sozialen Netzwerkgruppen wohlfühlen, weitergeht?
Dirscherl: Es ist ein unbeschreiblicher Zustand, wenn die Pflegesituation plötzlich wegbricht. Es fehlt die Tagesstruktur und ich zum Beispiel wusste nicht mehr, wozu ich noch auf dieser Welt bin. Außenstehende können das kaum verstehen. Das habe ich daran gemerkt, wenn mir gesagt wurde: “Nun denk doch auch mal an dich. Jetzt kannst du endlich wieder mehr tun, was dir wichtig ist.“ Ich hatte aber, nachdem mein Vater gestorben war, keine Idee, was ich nun anfangen sollte. Und so geht es vielen langjährig Pflegenden.
Und wie ging es bei Ihnen weiter?
Dirscherl: Nach dem Tod meines Vaters hat mich Kornelia Schmid in die Trauergruppe eingeladen. Und nach einem halben Jahr hat sie mich gefragt, ob ich sie nicht als Administratorin unterstützen möchte. Das war ein großes Glück für mich.
Was machen Sie als Administratorin und wie viel Zeit kostet Sie die Gruppenbetreuung am Tag?
Dirscherl: Mein Herzblut hängt an der Gruppe. Ich bin den ganzen Tag von morgens bis abends online, um für die Mitglieder da zu sein, Beiträge oder Beitrittsanfragen freizuschalten.
Wie viele Mitglieder hat die Gruppe derzeit und müssen Sie manchmal auch Beitrittsanfragen ablehnen?
Dirscherl: Wir sind zurzeit etwa 830 Mitglieder. Ja, es kommt vor, dass ich Anfragen ablehne, denn der Schutz der Mitglieder steht an allerhöchster Stelle, damit Fake-Profile nicht in die Gruppe kommen.
Wie erkennen Sie, ob jemand ein echtes Bedürfnis hat, sich der Gruppe anzuschließen oder ein Betrüger ist?
Dirscherl: Zunächst einmal erhält jede und jeder Interessierte den Hinweis, dass er nur in der Facebook-Gruppe aufgenommen wird, wenn er alle Fragen beantwortet und sich mit den Gruppenregeln einverstanden erklärt.
Und welche Fragen kommen auf potenzielle neue Mitglieder zu?
Dirscherl: Zunächst wird gefragt, um welchen Angehörigen getrauert wird. Dann interessiert uns, in welchen Gruppen zum Thema Pflege das neue Mitglied noch ist. Es ist jedoch keine Bedingung, in anderen Gruppen aktiv zu sein. Zum Schluss wird noch gefragt, wie der Interessierte auf unsere Gruppe aufmerksam wurde. Da geben wir aber keine Antworten zur Auswahl vor, sondern es muss frei formuliert werden.
Was ist für Sie persönlich das hilfreichste an dieser Gruppe?
Dirscherl: Der wertschätzende Umgang und so viel Fürsorge, Zuwendung und Verständnis, was ich hier immer wieder erfahre.
Nun heißt es ja aber, dass Trauer etwas ungemein Individuelles ist und jeder Mensch anders trauert. Und dennoch fühlen Sie sich verstanden?
Dirscherl: Ja, denn etwas ist allen in unserer Gruppe gemein: Durch die Pflege entsteht eine ganz besonders enge Verbindung zum Angehörigen und im Grunde wird man auch furchtbar dünnhäutig. Viele haben das Sterben ihres Angehörigen erlebt. Das kann traumatisierend sein. Es kann aber andererseits auch belastend sein, wenn man nicht dabei sein konnte. Diese Erfahrungen teilen die meisten in der Gruppe. Was aber wirklich individuell ist, ist der Zeitpunkt der Trauer, der Ausdruck, den sie findet und der Umgang mit ihr.
Wie ist das zu verstehen?
Dirscherl: Es kann sein, dass Menschen direkt nach dem Tod des Angehörigen beginnen zu trauern. Es kann aber auch sein, dass die Trauer verzögert eintritt. Beispielsweise erst dann, wenn alle Formalitäten erledigt sind, die Wohnung geräumt ist und so weiter. Oder vielleicht auch erst noch viel später. Dann bedeutet trauern nicht immer, auch zu weinen. Auch da sind Menschen sehr unterschiedlich. Manche plagen sogar Schuldgefühle, da sie nicht weinen können. Und letztlich kann sich Trauer auch in ganz unterschiedlicher Weise zeigen, als Bauchschmerzen, Müdigkeit oder Schlaflosigkeit zum Beispiel.
Wenn jemand keinen Internetzugang besitzt oder auch lieber in der analogen Welt unterwegs ist – können Sie auch ein Angebot außerhalb von Facebook empfehlen?
Dirscherl: Ich selbst gehe seit etwa sieben Jahren alle paar Wochen zu Gesprächen beim sozialpsychiatrischen Dienst. Das Angebot wird bei uns kostenfrei von der Stadt vorgehalten und das gibt es auch in anderen Städten und Gemeinden, beispielsweise vonseiten der Caritas oder der Diakonie. Die Gesprächsangebote kann ich nur empfehlen.
Über 830 Mitglieder
Die Facebook-Gruppe „Trauer in/nach der Pflege“ wurde im Oktober 2019 gegründet und zählt zurzeit 838 Mitglieder. Initiatorin der Gruppe ist Kornelia Schmid, die 2013 die Gruppe „Pflegende Angehörige“ und 2017 den Verein „Pflegende Angehörige e. V.“ ins Leben gerufen hat.
Weitere Informationen: www.pa-ev.de
Mail: info@pflegende-angehoerige-ev.de
Zur Person
Karin Dirscherl (70) ist gelernte Zahnarzthelferin und lebt in Fürth. Sie pflegte zehn Jahre lang ihre Eltern. Nach dem Tod der Mutter starb vor zwei Jahren auch ihr Vater. Als langjähriges Mitglied der Facebook-Gruppe „Pflegende Angehörige“ kam sie auch zur Gruppe „Trauer in/nach der Pflege“ sowie zu einer weiteren Gruppe von Kornelia Schmid unter dem Titel „Pflegende Angehörige – letzte Phase, Abschiednehmen“.