Projekt „Echt Unersetzlich“: „Uns geht es um die Wünsche der Jugendlichen“ – Interview mit Leiterin Mara Rick
Frau Rick, wie ist das Projekt „Echt Unersetzlich“ entstanden und warum braucht es so ein Projekt?
Rick: Pflegende Jugendliche waren leider sehr lange und sind noch immer eine kaum wahrgenommene Gruppe. Wir hatten 2017 die Möglichkeit, im Rahmen der schon länger in Berlin bestehenden Beratungsstelle „Pflege in Not“ ein Projekt für pflegende Jugendliche und junge Erwachsene, also die „Young Carers“ (englisch für: Junge Pflegende) mit aufzubauen. Es war damals das erste Projekt in Deutschland, das sich dieser Zielgruppe gewidmet hat.
Warum wird die Gruppe der jungen pflegenden Angehörigen kaum wahrgenommen?
Rick: Weil die pflegenden jungen Menschen sich selbst gar nicht als pflegende Angehörige wahrnehmen. Das ist ein großer Unterschied zu den pflegenden Angehörigen, also beispielsweise den erwachsenen Kindern, die sich um ihre Eltern oder Schwiegereltern kümmern, wenn diese pflegebedürftig werden. Sie werden ganz klar als pflegende Angehörige gesehen und nehmen sich selbst als solche wahr.
Das ist bei „Young Carern“ nicht der Fall. Wenn man sie als pflegende Angehörige ansprechen würde, dann würden sie uns mit großen Augen angucken und sagen: „Aber das bin ich ja nicht“. Das liegt daran, dass sie in die Aufgabe hineingewachsen sind. Oft beginnt es sehr früh, dass sie Unterstützung leisten sowie Pflege und Sorgetätigkeiten in der Familie übernehmen. Es ist ein natürlicher Prozess: Innerhalb der Familie wird Hilfe gebraucht, dann leiste ich diese. In den wenigsten Fällen wird das besprochen. Es wird als etwas Normales angesehen.
Wie sieht die Arbeit von „Echt Unersetzlich“ aus?
Rick: Was unser Angebot auszeichnet, ist, dass wir mit den pflegenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen über verschiedene Kanäle zusammenarbeiten, ganz nach deren Wünschen und Bedürfnissen. Zum einen bieten wir eine Online-Beratung an, die auch anonym erfolgen kann. Das ist die häufigste Form der Kontaktaufnahme. Daraus können sich längere Beratungs- und Begleitungsprozesse ergeben, die dann entweder weiter online stattfinden oder auch zu einem persönlichen Kontakt führen können.
Sie bieten zudem auch eine telefonische Beratung an.
Rick: Ja, genau. Selbsthilfegruppen waren auch in Planung, aber das mussten wir coronabedingt vorerst auf Eis legen. Aber es ist weiterhin unser Ziel, auch eine Plattform zu schaffen, wo sich die Jugendlichen untereinander austauschen können.
Mit welchen Herausforderungen haben junge Pflegende Ihren Erfahrungen nach zu kämpfen?
Rick: Im Pflegealltag ist oft wenig Platz für ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Oft mussten sie deutlich schneller reifen, weil auf sie mehr Belastungen und Anforderungen als auf gleichaltrige Mitschülerinnen und Mitschüler zugekommen sind und sie deutlich mehr Verantwortung übernommen haben. Dabei ist die Jugend normalerweise eine Phase, in der es sich für Jugendliche um sich selbst dreht, sie damit beschäftigt sind, sich zu entwickeln und zu entdecken sowie herauszufinden, welchen Beruf sie gerne ausüben möchten und wie sie sich ihr Leben vorstellen. Diese Fragen fallen bei pflegenden Jugendlichen oft hinten runter oder sind zumindest deutlich überlagert von der familiären Situation.
Viele junge Erwachsene gehen für ihre Ausbildung oder ein Studium in eine andere Stadt und bauen sich ihr eigenes Leben auf. Das ist bei Young Carers häufig nicht der Fall. Sie bleiben vor Ort, um weiterhin Pflege und Unterstützung leisten zu können in der Familie.
Hinzu kommt, dass sie sich zum Teil für die Unterstützung, die sie zu Hause für ein pflegebedürftiges Familienmitglied erbringen, schämen. Es ist etwas, dass sie ihren Freundinnen und Freunden, Fachkräften, wie Lehrerinnen und Lehrern sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, oder sonstigen Bezugspersonen nicht erzählen.
Betroffene Familien haben zudem häufig Angst vor negativen Konsequenzen, zum Beispiel durch das Jugendamt, weil ihnen klar ist, dass die Pflege und Unterstützung, die Young Carer in der Familie erbringen, nicht altersgerecht ist – weder von der Art noch vom Umfang, der geleistet wird. Dass Jugendliche im Laufe ihrer Entwicklung Aufgaben im Haushalt, wie etwa die Spülmaschine auszuräumen, übernehmen, ist ganz normal.
Aber sobald im Haushalt nichts passiert, wenn die pflegenden Jugendlichen sich nicht darum kümmern, oder der Kühlschrank leer bleibt, wenn sie nicht einkaufen, dann ist das nicht mehr altersentsprechend. Dann liegt eine besondere Situation vor.
Viele Familien und vor allem betroffene Jugendliche haben Angst, nach außen zu kommunizieren, dass sie selbst oder die Familie Unterstützung brauchen. Sie haben Angst, dass dann das Jugendamt eingeschaltet wird. Das hören wir in den Beratungsgesprächen sehr oft.
Deshalb ist es uns wichtig, dass unser Angebot eben auch anonym stattfinden kann und sie keinerlei negativer Konsequenzen zu fürchten brauchen.
Hinweis
Weitere Informationen gibt es auf der Webseite des Projekts oder per Mail.
Wie kann die Kontaktaufnahme von Jugendlichen mit Ihren Mitarbeitenden aussehen?
Rick: Das ist sehr unterschiedlich. Oft gibt es einen konkreten Anlass. Dann kommen einmalige Anfragen, weil die Jugendlichen und jungen Erwachsenen beispielsweise eine Sachfrage zu etwas haben, was sich gerade im Pflegeprozess ereignet hat. Manchmal wollen sie sich aber auch einfach mal alles von der Seele schreiben. Da erzählen sie auch sehr detailliert und umfangreich, wie ihre familiäre Situation und die Pflegesituation für sie ist.
Die Anfragen sind sehr unterschiedlich – manchmal ist es nur ein Satz und manchmal fast ein halbes Buch.
Wir antworten den Ratsuchenden immer. Manchmal bleibt es bei diesem einmaligen Kontakt, weil sie einfach das Bedürfnis hatten, die Belastung und ihre Erfahrung zu teilen. Es ergeben sich daraus aber auch längere Beratungs- und Begleitprozesse.
Wie kann so eine Beratung und Begleitung aussehen?
Rick: Wir schauen uns jede Anfrage individuell an. Uns ist bei der Beratung wichtig, von Anfang an den Fokus auf die Wünsche und Bedürfnisse der pflegenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu legen sowie nachzufragen, wie ihre Empfindungen und Gefühle sind.
Gerade in den Pflegesituationen in den Familien liegt der Fokus natürlich stark auf der pflegebedürftigen Person. Je nachdem, welche Erkrankung vorliegt, machen sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch Sorgen.
Uns ist es aber wichtig, dass es in unserem Angebot um sie geht. Sie sind unsere Zielgruppe. Deshalb geben wir in der Regel keine Tipps zum Pflegealltag, sondern sprechen über ihre Wünsche und Bedürfnisse. Zum Beispiel wie sie die Freiräume bekommen, die sie gerne möchten, oder wie es mit ihrer Zukunft weitergeht und wie sie sich entwickeln. Unser Ziel ist es, gemeinsam mit den Jugendlichen ihre Wünsche und Pläne herauszuarbeiten, um dann gemeinsam zu schauen, wie man sie umsetzen kann.
Die pflegenden Jugendlichen fühlen sich verantwortlich und wollen auch das Pflegesetting so weiterführen. Sie wollen die Unterstützung nicht abbrechen. Im Gegenteil fühlen sie sich für den pflegebedürftigen Angehörigen verantwortlich und wollen auch gerne Unterstützung leisten. Wir versuchen auszutarieren, wie sie ihre Zukunftsvorstellungen realisieren und dabei weiterhin für den pflegebedürftigen Angehörigen da sein können. Es geht also nicht um die Pflegesituation, sondern um deren Zukunftswünsche und Zukunftsperspektiven.
Wie werden pflegende Jugendliche auf das Angebot von „Echt Unersetzlich“ aufmerksam?
Rick: Über zwei Wege. Wir versuchen die Jugendlichen anzusprechen, zum Beispiel über Social-Media-Kanäle, wo wir versuchen, sie abzuholen und ihnen zu verdeutlichen, dass sie pflegende Angehörige sind und dass es eine besondere Leistung ist, was sie in den Familien täglich erbringen.
Zum anderen gehen wir auf Fachkräfte zu, beispielsweise in Schulen, da sie täglich Kontakt zu Jugendlichen haben. In Berlin sind etwa ein bis zwei Schülerinnen und Schüler (Im Folgenden Schüler) je Schulklasse pflegende Jugendliche.
Deswegen ist uns auch wichtig, dass Fachkräfte für dieses Thema sensibilisiert werden und dann entsprechend bei ihren Schülern identifizieren können, wer betroffen sein könnte. Sie können Schüler gezielt ansprechen und an Unterstützungsangebote vermitteln.
Wir versuchen es hier in Berlin auch über den Bildungssenat in die Schulen zu tragen. Das ist ein stetiger Prozess. Aber es ist uns sehr wichtig, die Fachkräfte zu informieren. Nur wenn man von einem Thema weiß, kann man auch hinschauen und hat es auf dem Schirm. Dann kann man auch aktiv werden.
Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Rick: Der erste große Wunsch ist, dass die pflegenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen wahrgenommen werden. Das Thema rückt zwar mehr in den Fokus, aber wir sind noch lange nicht so weit, dass alle auch an pflegende Jugendliche und junge Erwachsene denken, wenn man über pflegende Angehörige spricht. Das ist noch ein weiter Weg und es braucht noch viel mehr Sensibilisierung und Aufmerksamkeit für diese Zielgruppe und dass sie auch einen anderen Beratungs- und Unterstützungsbedarf hat als erwachsene pflegende Angehörige.
Was wünschen Sie sich von der Politik für pflegende Jugendliche?
Rick: Das Thema sollte bundesweit mehr in den Fokus genommen werden und es sollten mehr Unterstützungsangebote für die Young Carer aufgebaut werden. Uns gibt es als Beratungsstelle seit fünf Jahren in Berlin. Bundesweit ist man aber deutlich dünner aufgestellt.
Welche Pläne haben Sie noch für das Projekt?
Rick: Wir haben den Plan, das Thema in der Wahrnehmung weiter auszubauen – vor allem in der Wahrnehmung von Fachkräften.
Ein weiteres Thema, welches auch wenig beachtet wird, sind Young Carer in Familien mit Migrationsgeschichte. Es betrifft aber auch solche Familien und aufgrund der Migrationsgeschichte noch mal anders. Dem Thema sollte man sich in Zukunft noch widmen.
Zur Person
Mara Rick (32) ist Sozialarbeiterin und leitet seit Anfang des Jahres das Projekt „Echt Unersetzlich“ und die Beratungs- und Beschwerdestelle bei Konflikt und Gewalt in der Pflege älterer Menschen „Pflege in Not“ in Berlin.