Progressive Muskelrelaxation: Wohl entspannt

Ich breite meine grau melierte Decke über mir aus und lege mich bequem auf den Rücken. Meinen Kopf senke ich sanft auf mein Lieblingskissen, das ich bei einem Bummel durch die Dubaier Souks gekauft habe und mit dem ich unvergessliche Augenblicke verbinde. Meine Arme positioniere ich locker neben dem Körper und strecke meine Beine aus. Meine Zehenspitzen fallen leicht nach außen. Ich liege angenehm und schließe leicht meine Augen. Für die nächste halbe Stunde nehme ich mir vor, nur auf mich zu achten – mich selbst wahrzunehmen. Ich drücke auf Play.
Gut zu erlernen, individuell anpassbar
„Gehen Sie in Gedanken durch Ihren Körper und versuchen Sie aufzuspüren, welche Muskelgruppen angespannt und verkrampft sind“, lausche ich der eingängigen Stimme aus dem Off. „Nehmen Sie einige tiefe Atemzüge durch die Nase und atmen Sie langsam wieder aus. Beobachten Sie, wie sich Ihre Bauchdecke beim Ein-atmen hebt und beim Ausatmen wieder langsam senkt.“ Schon nach wenigen Momenten bin ich bei mir. Die Reise durch meinen Körper kann beginnen. Sie startet bei den Händen, führt über die Arme, das Gesicht, den Nacken, die Brust, die Schultern, den Rücken, den Bauch, das Gesäß, die Beine, bis zu den Füßen.
In den 1930er-Jahren begründete der amerikanische Arzt Edmund Jacobson das Verfahren der Progressiven Muskelrelaxation (PMR), die auch als Progressive Muskelentspannung (PME) bezeichnet wird. „Sie ist leicht zu erlernen und gut an die individuelle Situation anpassbar. So haben viele Menschen Zugang zu ihr“, erklärt Physiotherapeutin Gisela Semmler, die im nordhessischen Melsungen diverse Entspannungskurse leitet. „Wer nicht so lange liegen kann, kann die PMR ebenso im Sitzen durchführen“, so die Entspannungstrainerin. Grundsätzlich gehe es bei diesem Verfahren immer darum, bestimmte Muskelgruppen an- und wieder zu entspannen. „Dabei ist es wichtig, sich auf den Übergang zwischen An- und Entspannung zu konzentrieren, das Gefühl hierbei genau zu beobachten und nachzuspüren“, verdeutlicht Semmler. „Progressiv“ bedeutet, dass Abschnitt für Abschnitt Muskelgruppen angesprochen werden.
Tipps der Expertin im Überblick
- Wenn Sie sich unsicher sind, ob die PMR eine für Sie oder Ihre Angehörigen geeignete Technik ist, fragen Sie bei Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt nach.
- Wenn Sie sich für die PMR entschieden haben, lassen Sie sich auf sie ein und nehmen Sie sich zu Beginn nicht zu viel vor.
- Es ist auch möglich, einzelne, für sich passende Bestandteile der Übungssequenz herauszugreifen.
- Wenn die Rückenlage für Sie nicht geeignet ist, können Sie die Übungssequenz auch im Sitzen absolvieren.
- Wählen Sie zur Durchführung der Übungssequenz einen Ort aus, an dem Ruhe herrscht und Sie nicht gestört werden können.
- Integrieren Sie die PMR in Ihren Alltag und lassen Sie sie zum Ritual werden, z. B. vor dem Schlafengehen.
Nachspüren
„Winkeln Sie beide Arme im Ellbogen an, bilden Sie mit den Händen Fäuste, drücken Sie die Arme an Ihren Körper heran und ziehen die Schultern etwas nach hinten unten. Jetzt!“, beschreibt die Stimme die Übung. „Halten Sie die Spannung für etwa fünf Sekunden. Atmen Sie langsam wieder aus, lösen Sie die Spannung an Händen, Unter- und Oberarm und lockern Sie Ihre Muskeln. Achten Sie auf den Unterschied zwischen der Anspannung vorher und der Entspannung jetzt.“ „Die Stimme der anleitenden Person ist übrigens ein entscheidender Faktor“, betont die Physiotherapeutin. „Wenn einem die Stimme angenehm ist, klappt es auch mit dem Erlernen der Technik gut.“
Dann ist die Gesichts- und Nackenmuskulatur dran: Ich runzele meine Stirn, kneife die Augen fest zu, rümpfe die Nase und beiße die Zähne fest aufeinander. Lasse meinen Mund ganz breit werden, indem ich die Mundwinkel auseinanderziehe. Mein Kinn ziehe ich in Richtung Brustbein und den Kopf nach hinten oben. „Sind alle Muskelgruppen angespannt?“, fragt die Stimme aus dem Off. „Halten Sie die Spannung einen Moment. Atmen Sie langsam wieder aus, lösen Sie die Spannung, indem Sie alle Muskeln gleichzeitig lockern.“ Ich spüre, wie sich meine Augenbrauen, meine Kopfhaut, meine Augen, Nase und Kiefer entspannen. Mein Gesicht wird immer glatter, je gelöster ich werde. Mein Puls und meine Atmung werden ruhiger und ruhiger.
Körper und Geist zur Ruhe kommen lassen
Mit jeder Muskelpartie mehr, die auf der Reise durch meinen Körper angesprochen wird, sinke ich tiefer in den Untergrund ein, auf dem ich liege. Ein wohliges Gefühl stellt sich ein. „Genau das soll erreicht werden. Wir stehen heutzutage ständig unter Strom. Da ist es wichtig, sich Zeit für sich zu nehmen und Körper und Geist zur Ruhe kommen zu lassen“, unterstreicht Semmler. Das betreffe auch pflegende Angehörige, die täglich extrem gefordert seien. „Trotz aller Verantwortung und Hingabe für seine Liebsten muss man sich auch etwas Gutes tun, sich Zeit für sich nehmen – und wenn es nur zehn Minuten sind“, rät die Entspannungstrainerin. Bei der PMR müsse man nicht immer die komplette Übungssequenz durchführen. „Es funktioniert auch, wenn man sich einzelne Körperteile, die an- und wieder entspannt werden, herauspickt.“
Kurse vor Ort und online
Eine Möglichkeit, um in die Methode der Progressiven Muskelrelaxation (PMR) einzusteigen, sind von Fachpersonen angeleitete Kurse vor Ort. Bei Ihrer Krankenkasse können Sie sich nach geeigneten Angeboten erkundigen. Darüber hinaus bieten einige Krankenkassen online Informationen zur PMR und entsprechende Höranleitungen an, so z. B. die Barmer: https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/praevention-und-vorsorge/campus-coach/pmr-167904. Mithilfe von Büchern, CD oder Apps kann man die PMR selbst ausprobieren. Auch auf dem Portal YouTube gibt es unter der Eingabe des Stichworts „Progressive Muskelentspannung“ eine Reihe von Übungsanleitungen zum Austesten.
Tiefenentspannt
Nun sind Brustkorb, die Schultern, der Rücken und der Bauch an der Reihe: „Ziehen Sie die Schultern nach hinten und gleichzeitig etwas nach unten, lassen Sie den Bauch und den Rücken hart werden.“ Ich versuche, die Spannung noch etwas zu verstärken und sie für einige Momente zu halten. „Lassen Sie Ihre Schultern wieder locker fallen und entspannen Sie die Bauch- und Rückenmuskeln gleichzeitig.“ Ich erlebe wieder das angenehme warme Gefühl von eben. Dieses könnten auch pflegebedürftige Menschen wahrnehmen. „Wenn die Betroffenen geistig und kognitiv fit sind, können sie ebenfalls von Elementen der Entspannungstechnik profitieren: Eine Faust zu ballen, sie anzuspannen und wieder zu öffnen, das zum Beispiel können auch viele von ihnen in der Regel noch gut“, sagt die erfahrene Physiotherapeutin.
Wir sind bei Unter- und Oberschenkel angekommen. „Beugen Sie die Zehen nach unten, bis die Fuß- und Wadenmuskeln gespannt sind. Drehen Sie dabei die Füße etwas nach innen, bis Sie die Außenkante der Fußsohle in den Boden hineindrücken können. Üben Sie so viel Druck aus, dass die Füße fixiert sind und spannen nun zusätzlich die Oberschenkelmuskulatur an, so als wollten Sie den Fuß auf dem Boden nach vorn von sich wegschieben. Jetzt!“ Ich halte die Spannung für ungefähr fünf Sekunden, nehme sie unmittelbar wahr. Danach lasse ich sie wieder los, entspanne dabei gleichzeitig meine Bein- und Fußmuskeln. Ich folge der Entspannung einige Sekunden und lasse sie mit jedem Ausatmen tiefer werden. Meine Reise durch den Körper geht nun zu Ende. Ich lasse das Wohlgefühl noch einmal durch all meine Körperteile fließen – in die Finger, die Arme, die Stirn, über das Gesicht, in den Kiefer, den Nacken, die Schultern, in den Oberkörper, den Rücken, in den Bauch, das Gesäß, die Beine, bis in die Füße – und bin nun absolut tiefenentspannt.