Pflegegrad: Begutachtung per Telefon oder Video statt Hausbesuch

Pflegegrad: Begutachtung per Telefon oder Video statt Hausbesuch

Zwischen 2016 und 2022 ist die Zahl der pflegebedürftigen Menschen von 3,1 Millionen auf rund 5 Millionen gestiegen. Der starke Anstieg Pflegebedürftiger, gepaart mit fehlendem Fachpersonal für Begutachtungen zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit und Pflegegrad, macht eine Alternative zu den bislang üblichen Hausbesuchen notwendig. Strukturierte Telefoninterviews und Video-Begutachtungen sind Alternativen, die sich immer mehr durchsetzen. Das zeigen auch unterschiedliche Studien und Projekte.

Ein Mann und eine Frau sitzen gemeinsam vor einem Laptop und führen ein Gespräch per Video.
GettyImages/vorDa
Inhaltsverzeichnis
    Add a header to begin generating the table of contents

    Während der Corona-Pandemie setzten die Medizinischen Dienste (MD) immer öfter auf die Möglichkeit, die zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit und Pflegegrad notwendige Begutachtung auch telefonisch vorzunehmen. Die positiven Erfahrungen wurden durch verschiedene Studien und Befragungen belegt. Da jedoch auch beobachtet wurde, dass strukturierte Telefoninterviews in bestimmten Fällen nicht ausreichend Einblicke – zum Beispiel in das Lebensumfeld der Betroffenen – geben, wird in einzelnen Projekten und gerade bei Kindern und Jugendlichen vermehrt auf die Begutachtung per Video zurückgegriffen.

    Pflegegrad-Begutachtung: Wie ist die aktuelle Gesetzeslage?

    Mit dem Anfang Juli 2023 in Kraft getretenen Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz (PUEG) wurde grundsätzlich die Möglichkeit geschaffen, die Begutachtung zur Feststellung einer Pflegebedürftigkeit – und damit die Grundlage für die Einstufung in einen Pflegegrad – telefonisch vorzunehmen. Pflegebegutachtungen per Video waren darin aber nicht erlaubt.

    Ende 2023 kam jedoch Bewegung in die Gesetzgebung: So wurde in den Änderungsvorschlägen zum Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens die Option der Video-Begutachtung mit aufgenommen. Am 14. Dezember 2023 hatte der Bundestag das Digital-Gesetz in zweiter und dritter Lesung beschlossen.

    Video-Begutachtung ermöglicht zeitnahen Zugang

    Der MD Bund erklärte dazu in einer Pressemitteilung: „Der Medizinische Dienst Bund begrüßt, dass mit dem Digitalgesetz die Video-Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit eingeführt wird. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Flexibilisierung der Begutachtungsformate, um mit Blick auf den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel weiterhin den zeitnahen Zugang der Versicherten zu den Pflegeleistungen sicherstellen zu können. Es kommt nun darauf an, die Videotelefonie für alle geeigneten Begutachtungsfälle nutzbar zu machen.“

    Der Gesetzgeber fordert allerdings weitere Studien, um den Nutzen der digitalen Formate bei der Begutachtung im Zusammenhang mit Pflegebedürftigkeit und Pflegegrad zu belegen. Eine dieser Erhebungen ist die bislang noch nicht veröffentlichte sogenannte Sprint-Studie des MD Bund: „Die Video-Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit – Potenziale und Voraussetzungen“.

    MD Berlin-Brandenburg mit eigenem Projekt zur Video-Begutachtung

    Der MD Berlin-Brandenburg hat ein eigenes Projekt zur Evaluierung der Pflegegrad-Begutachtung per Video gestartet. Dr. Birgit Heukrodt, Geschäftsbereichsleiterin Krankenhaus beim MD Berlin-Brandenburg, erklärt dazu: „Wir nutzen ein zertifiziertes und datenschutzkonformes Portal für die Video-Begutachtung. Anfangs wurde diese Option Versicherten angeboten, die plastisch-kosmetische Operationen beantragt hatten. Aufgrund der positiven Erfahrungen wird die Video-Begutachtung nun auch in anderen Bereichen eingesetzt, wie beispielsweise bei der Begutachtung von Hilfsmitteln und Arbeitsunfähigkeit. Im Hausarzt-Bereich sind Video-Sprechstunden keine Seltenheit.“

    Die Pandemie habe da viel vorangebracht, sagt Heukrodt, die von Hause aus Chirurgin ist, im Gespräch mit Angehörige pflegen. So habe sich beispielsweise die Möglichkeit der strukturierten Telefoninterviews als gleichwertiger Ersatz für den Hausbesuch zur Begutachtung im Rahmen der Feststellung von Pflegebedürftigkeit und Pflegegrad durchgesetzt.

    Video-Begutachtung für den Pflegegrad: Noch kein Regelfall

    Mit Beginn des Projektes am 1. August 2023 haben im Zuständigkeitsbereich des MD Berlin-Brandenburg demnach auch Pflegebedürftige die Möglichkeit zur Video-Begutachtung, etwa bei Höherstufungsanträgen, wahrgenommen. „Wir nutzen die gleichen Tools wie bei der ärztlichen Video-Sprechstunde“, erklärt Marina Fleischer, die den Geschäftsbereich Pflege beim MD Berlin-Brandenburg stellvertretend leitet.

    Allerdings gebe es im Pflege-Bereich noch Einschränkungen, da die Video-Begutachtungen nicht gesetzlich verankert seien und nur im jetzt laufenden Projekt erprobt werden dürften. Bei Erstanträgen dürften Begutachtungen generell nur persönlich erfolgen. (Anmerkung der Redaktion: Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs mit dem MD Berlin-Brandenburg war das Digital-Gesetz noch nicht beschlossen).

    Video-Begutachtung: Voraussetzungen und Vorteile

    Voraussetzung für die Teilnahme an einer Video-Begutachtung vonseiten der Versicherten ist ein internetfähiges Endgerät, also ein Computer, Laptop, Tablet oder Smartphone.

    Für die Beteiligten beim MD Berlin-Brandenburg haben Video-Begutachtungen klare Vorteile:

    • Es entfallen Wegezeiten für die Gutachterinnen sowie Gutachter und Anträge können so zügiger bearbeitet werden.
    • Die Teilnahme von An- und Zugehörigen ist einfacher, wenn diese beispielsweise weiter entfernt wohnen.
    • Video-Begutachtungen können in Zeiten mit hohem Infektaufkommen kontaktlos stattfinden und ein Einblick in die häusliche Situation kann dennoch gegeben werden.

    „Kinder-Begutachtungen machen etwa 30 Prozent aus“

    Bis Ende November 2023 haben etwa 120 Begutachtungen dieser Art stattgefunden. Birgit Heukrodt: „Bei Kinder-Begutachtungen wird das Video-Angebot sehr gut angenommen, sie machen etwa 30 Prozent unserer Begutachtungen aus. Hintergrund ist, dass die Eltern in der Regel mit der benötigten Technik ausgestattet sind. Das Portal, das die Video-Begutachtung unterstützt, ist einfach und barrierefrei. Und man kann sich selbst einen Termin auswählen, das ist besonders komfortabel.“

    Generell werde eine Vorauswahl getroffen, bei welchen Anträgen eine Video-Begutachtung überhaupt infrage komme. „Das Angebot ist freiwillig und es entstehen dem Versicherten keine Kosten. Zudem sind die Anforderungen an den Datenschutz sehr hoch, da es sich ja um Sozialdaten handelt, die erhoben werden. Das beginnt damit, dass der Server schon mal in Deutschland stehen muss“, erklärt die Geschäftsbereichsleiterin.

    Auch private Versicherer erproben Begutachtung per Video

    Auch Medicproof, der medizinische Dienst der Privaten Krankenversicherungen, hat ein wissenschaftliches Dossier zu seinem Pilotprojekt der Video-Begutachtungen erstellt. Hierin wurden im Jahr 2022 insgesamt 904 Videobegutachtungen von rund 50 Gutachterinnen und Gutachtern ausgewertet.

    Die wesentlichen Ergebnisse:

    • 97 % der Video-Begutachtungen fanden im ambulanten Bereich statt.
    • Mit 28 % repräsentierten Kinder und Jugendliche die größte Gruppe der zu begutachtenden Patienten.
    • Die Widerspruchsquote zu allen Video-Begutachtungen entsprach der allgemeinen Begutachtungsquote (5,5 %).
    • 98 % der Gutachter zeigten sich mit der Methode zufrieden.
    • 93 % der Versicherten, die keine Video-Begutachtung wollten, gaben ein fehlendes Equipment als Grund an.
    • 55 % gaben zusätzlich keinen oder schlechten Internetzugang an.
    Hat Ihnen der Beitrag weitergeholfen?
    Warum ist dieser Artikel nicht hilfreich?(erforderlich)
    Je konkreter Ihre Kritik, desto besser können wir unsere Inhalte für Sie aufbereiten.
    Das könnte Sie auch interessieren: