Bewegungsentwicklung von Kindern begleiten (Teil 1) – Interaktion und funktionale Anatomie: Ich bin kein Gepäckstück
Bereits Neugeborene besitzen viele Fähigkeiten, die entdeckt und für ihre Entwicklung weiter genutzt werden können, z. B. mit der schrittweisen oder gleichzeitig gemeinsamen Interaktion.
Interaktion über Bewegung: das Prinzip „Führen und Folgen“
Beim notwendigen Lagewechsel des Kindes von der Rücken- zur Seitenlage und zurück – etwa beim Wickeln – sollten Sie darauf achten, Ihr Kind großflächig zu berühren. Diese Berührung ist die Kontaktaufnahme. Sie ruht einen Moment. So vermeiden Sie, Ihr Kind anzufassen und es im selben Moment bereits zu bewegen. Nehmen Sie sich einige Sekunden Zeit, um zu erkennen, wie Ihr Kind über sein kinästhetisches Sinnessystem (das gesamte Wahrnehmungsnetz im menschlichen Körper, das uns vermittelt, dass und wie wir uns bewegen) auf die Berührung aufmerksam wird.
Erfahrungsbeispiel
Heben Sie Ihren Arm über den Kopf. Strecken Sie einen Finger aus. Sie fühlen genau, wohin sich der Arm bewegt und welchen Finger Sie strecken. Ebenso erfahren Sie Ihre Muskelspannung als Anstrengung. Die gesamte Körperorientierung und die differenzierte Steuerung all unserer Bewegungen wird über das kinästhetische Sinnessystem ermöglicht.
Der Beginn der Bewegung, z. B. beim Drehen Ihres Kindes, vollzieht sich schrittweise. Es kann langsam am Becken begonnen werden. Dabei entsteht ein Spannungsnetz über die Taille zum Brustkorb. Anschließend begleiten Sie langsam mit der anderen Hand den Brustkorb. Das Spannungsnetz läuft jetzt weiter über den Hals zum Kopf. Warten Sie auf ein Mitbewegen des Kindes und halten Sie die eingeleitete Drehung. Es ist zu beobachten, dass annähernd jedes Kind nun den Kopf und die Arme alleine drehen wird und sich mit Ihrer Begleitung zur Seite dreht. Es handelt sich also um fein abgestimmte Bewegungsangebote mit der Absicht, das Kind zum Mitbewegen einzuladen. Diese Eigenaktivität des Kindes ist die Antwort auf seine Wahrnehmung der Körperspannung über Becken und Brustkorb. Hier setzen die ersten Kompetenzschritte an, sich unter geringer Hilfe selbst auf die Seite zu drehen. Ebenso vollzieht sich der Weg zurück – langsam und wartend auf die eigene Bewegung des Kindes.
Erfahrungsbeispiel
Legen Sie sich auf den Boden und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit darauf, wie die durch den Körper verlaufende Muskelspannung nach und nach die anderen Körperteile aufruft zu folgen.
Dieses Phänomen zu beobachten, ist von jedem Körperteil aus beginnend möglich. Es ist das zentrale Element, Bewegung wahrzunehmen, zu gestalten und gezielt zu steuern. Niemand kann sich mit allen Körperteilen gleichzeitig zur Seite drehen. Beim Kind gilt es, einseitige Interaktionen möglichst zu vermeiden. Oft werden besonders noch sehr kleine Kinder und Babys wie „Gepäckstücke“ bewegt. Hierbei lernen sie, uneffektive und hohe Muskelspannungen zu produzieren, weil sie sich im Moment einer schnellen Ganzkörperbewegung mit hoher Anspannung anpassen müssen. Bei vielen Kindern (z. B. Cerebralparese, Bewegungsstörung bedingt durch eine frühkindliche Hirnschädigung) ist dies dann die Folge einer ständig zunehmenden Körperspannung, die fälschlicherweise mit dem Begriff „Spastik“ bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um erlernte Prozesse, verursacht durch die Art der Interaktion (einseitig, zu schnell, en bloc drehen) über viele Jahre und tausendfache Wiederholungen.
Erfahrungsbeispiel
Drehen Sie sich schnell, ruckartig und en bloc. Achten Sie dabei auf Ihre Muskelspannung. Wiederholen Sie die Drehung sehr langsam beginnend, damit Sie erfahren, wie ein Körperteil dem anderen folgt. Sie bemerken, dass die Muskelanstrengung nun geringer ist. Besonders deutlich wird es, wenn Sie sich unvermittelt mit geschlossenen Augen von einer anderen Person einseitig und schnell drehen lassen bzw. Sie erst berührt werden und dann auf langsam beginnende Bewegungsangebote passend mitreagieren können.
Funktionale Anatomie: Bewegung am Körperbau orientieren
Die Knochen haben u. a. die Aufgabe, unser Körpergewicht zu tragen. Bereits Kleinkinder können unterstützt werden, ihr Gewicht, ähnlich wie Erwachsene, über die Knochen abzuleiten. Dabei lernen sie, ihre Arme und später die Beine zu nutzen, was zusätzlich eine zentrale Bedeutung für das Knochenwachstum und den Gebrauch von Händen und Füßen hat.
Erfahrungsbeispiel
Legen Sie sich auf den Boden und setzen Sie sich in einem Sit-up auf. Sie spüren hohe Anstrengung in den Bauchmuskeln, die das Gewicht bewegen. Erfahren Sie den Unterschied, wenn Sie sich über die Seite auf den Ellenbogen stützen, dann die Knochen des Unterarms nutzen und so zum Sitzen kommen.
Ihr Kind sollten Sie keinesfalls nur am Brustkorb oder gar an den Oberarmen hochheben oder aus einem Kindersitz (z. B. Autositz) herausbewegen. Es besteht hier eine Frakturgefahr der Arme, denn das Kind kann sich nicht entsprechend seines Körperbaus mitbewegen. Die untere Körperhälfte hängt in der Luft, unkontrollierte Spannungen (meist Streckspannungen) entstehen. Unterstützen Sie daher mit einer Hand das Becken, das als Knochenmasse geeignet ist, das Körpergewicht zu tragen.
Was ist Kinaesthetics?
Kinaesthetics (engl.) oder Kinästhetik ist eine erfahrungsorientierte Bewegungswissenschaft. Das Wort leitet sich aus der griechischen Sprache ab: kinesis = Bewegung aisthesis = Empfindung/ Wahrnehmung Begründet wurde Kinaesthetics vor mehr als 40 Jahren von Dr. Frank Hatch und Dr. Lenny Maietta. In Zusammenarbeit mit vielen Teilnehmenden der ersten Kurse, die im Gesundheitswesen arbeiteten, wurde Kinaesthetics weiterentwickelt für die Arbeit von Pflegenden sowie Therapeutinnen und Therapeuten. Mittlerweile existieren verschiedene spezifische Programme, z. B. Kinaesthetics für pflegende Angehörige. Kinaesthetics ist in sechs Konzepte gegliedert, die alle untereinander in Beziehung stehen. Die einzelnen Konzepte ermöglichen jeweils einen differenzierten Blick auf bestimmte Aspekte der Bewegung.
Häufig beschriebene Skoliosen (seitliche Verbiegungen der Wirbelsäule) sind ursächlich die Folge hoher Spannungen und des Durchhängens der Wirbelsäule beim Tragen auf dem Arm. Wechseln Sie die Trageseite, auch wenn es anfangs für Sie unbequem erscheint (typischerweise wird das Kind von einer Rechtshänderin oder einem Rechtshänder mit dem linken Arm getragen, damit die rechte Hand frei bleibt für zusätzliche Aktivitäten – umgekehrt ist dies bei Linkshänderinnen bzw. Linkshändern.
Helfen Sie Ihrem Kind, über die Seitenlage zum Sitzen zu kommen und über eine Drehung dann zum Stützen auf Knie und Arme. Das direkte Aufrichten aus der Bauchlage parallel auf die Knie sollte vermieden werden (hohe Anstrengung, Skoliosegefahr). Setzt sich das Kind über die Knie auf die Waden, achten Sie unbedingt darauf, dass die Füße nicht nach außen zeigen. Dies führt in zunehmendem Alter zur Fehlstellung der Sprunggelenke, die ein späteres richtiges Gehen unmöglich macht.
Fazit
Beobachten Sie Ihr Kind in seinen Bewegungen. Schauen Sie darauf, wie Sie sich selbst bewegen. Reflektieren Sie, dass Ihre Bewegungsunterstützung eine Bewegungserfahrung für Ihr Kind bedeutet und Sie beide Freude am täglich neuen miteinander Entdecken und Lernen haben.
Der zweite Teil, der in der nächsten Ausgabe erscheint, gibt Beispiele, wie Kinder beim Erlernen von Bewegungsmustern (parallele und spiralige Bewegung) und in Alltagsaktivitäten – u. a. Nahrungsaufnahme, Atmung, Ausscheidung, Positionsunterstützung und Umgebungsgestaltung – gesundheitsfördernd unterstützt werden können.
Schon gewusst?
In Kinaesthetics-Kursen können pflegende Angehörige von speziell dafür ausgebildeten Kinaesthetics-Trainerinnen und -Trainern ihre Qualifikation für eine gesundheitsfördernde Begleitung ihrer Angehörigen erwerben. Ebenso profitieren sie selbst durch ein höheres Wahrnehmungs- und Bewegungsverständnis in all ihren eigenen Bewegungen. Informationen zu Kursen und eine Liste mit Trainerinnen und Trainern finden Sie unter www.kinaesthetics.de.