Bedürfnisorientierte Pflege: Warum Zeitvergütung die Zukunft ist

Bedürfnisorientierte Pflege: Warum Zeitvergütung die Zukunft ist

Viele Menschen wünschen sich eine bedürfnisorientierte Pflege, die an ihre individuelle Situation angepasst werden kann – keine Versorgung nach starren Vorgaben. Ein Modellprojekt der Caritas macht genau das möglich. Es basiert auf dem Prinzip der Zeitvergütung, fördert die Selbstbestimmung der pflegebedürftigen Menschen und entlastet die Angehörigen.

Eine ambulante Pflegeperson leistet eine bedürfnisorientierte Pflege bei einer alten Dame im Wohnzimmer.
GettyImages/Maskot
Inhaltsverzeichnis
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    Beim ersten Patienten wartet die Ehefrau schon an der Tür. „Mein Mann hat die ganze Nacht viel gehustet“, begrüßt Maria Schulte* die Pflegerin von der Caritas Sozialstation. „Am besten waschen Sie ihn heute nicht ganz.“ Die rüstige 80-Jährige sieht müde aus. Den halbgefüllten Trinkbecher ihres Mannes hält sie noch in der Hand. Es ist früh am Morgen, draußen beginnt es zu dämmern. „Ich schaue mal nach ihm“, sagt die Altenpflegerin Angelika Bohr. Sie nimmt Frau Schulte die Tasse ab und geht die Treppe nach oben. Den Weg kennt sie. Seit sechs Wochen ist sie regelmäßig in der Familie.

    Hermann Schulte* ist 82 Jahre alt und hat Parkinson. Vor zwei Monaten ist er gestürzt und seitdem ein „echter Pflegefall“, wie seine Frau sagt. Er könne nicht mehr sitzen und nicht mehr stehen, beim Essen müsse er unterstützt werden. „Er redet so gut wie gar nicht mehr, aber er bekommt ziemlich viel mit“, erzählt sie. Als ihr die Ärzte im Krankenhaus sagten: „Wir suchen einen Kurzzeitpflegeplatz für Ihren Mann“, entgegnete sie: „Nein, ich nehme ihn mit nach Hause.“ 52 Jahre sind die beiden nun verheiratet, haben zwei Töchter und vier Enkel. Für sie war klar: Sie pflegt ihren Mann zu Hause. Aber sie wusste, sie würde Unterstützung und eine bedürfnisorientierte Pflege für ihren Mann brauchen.

    Neues Zeitvergütungs-Modell ermöglicht bedürfnisorientierte Pflege

    Seitdem wird Hermann Schulte vom Pflegedienst der Caritas Sozialstation Lahnstein betreut. Er ist im Modellprojekt „Pflege ganz aktiv“, das seit 2022 im Westerwald läuft – zunächst auf einer und seit Sommer 2024 auf fünf Sozialstationen. Dabei buchen die Pflegebedürftigen keine festen Leistungen, wie Mobilisation, Duschen oder Anziehen, sondern ein Zeitkontingent – man spricht auch von Zeitvergütung. „Das heißt, die Pflegeperson geht für eine vereinbarte Zeit zur Familie und kann das machen, was der pflegebedürftige Mensch an diesem Tag braucht und wünscht“, erklärt Katharina Minor, eine der beiden Pflegedienstleitungen der Caritas Sozialstation Lahnstein. Das erhöhe die Selbstbestimmung der pflegebedürftigen Menschen und ermögliche den Pflegenden, sie individuell zu aktivieren und zu fördern, also eine bedürfnisorientierte Pflege zu leisten.

    „Das Menschliche hat wieder mehr Raum“

    Das hat auch bei Herrn Schulte funktioniert. Zu Beginn hatte er große Schluckbeschwerden. Die Altenpflegerin Angelika Bohr übte daher gezielt das Schlucken mit ihm. Auch gab sie der Ehefrau Tipps, damit Herr Schulte sich nicht immer wieder verschluckt. Seitdem gelingt das Trinken und Essen viel besser – die bedürfnisorientierte Pflege ist auch für Frau Schulte eine große Entlastung. „Mit dem neuen Vergütungsmodell können wir uns die Zeit nehmen, um die Selbstständigkeit gezielt zu fördern“, erläutert Bohr. „Dadurch lassen sich unsere Einsätze dann im Verlauf oft reduzieren, zum Beispiel von dreimal auf zweimal pro Tag.“

    Bohr arbeitet seit 2012 in der ambulanten Pflege und seit 2018 bei der Caritas. Über das Modellprojekt hat sie sich sehr gefreut: „Es geht nicht mehr nur um Körperpflege oder Mobilisation. Das Menschliche hat wieder mehr Raum.“ Man könne sich mehr Zeit für Gespräche und Beratungen nehmen, auch für die Angehörigen. „Der Zeitdruck, den wir früher hatten, ist weg.“

    Weiter zu Hause leben können – auch mit Demenz

    Die nächste Patientin, zu der die Altenpflegerin fährt, ist Ines Rossi*. Sie hat eine Demenz und lebt allein – mit Unterstützung des Pflegedienstes, der zweimal pro Tag kommt. Die 84-Jährige sitzt im lindgrünen Bademantel an ihrem Biedermeier-Esstisch, ihr weißer Pagenkopf ist sorgfältig frisiert. Den Frühstückstisch hat sie schon gedeckt und trinkt ihren ersten Tee. „Ich vergesse viel“, erzählt sie. „Im Kopf bin ich nicht mehr die Alte.“ – „Aber sie wohnen zu Hause“, sagt Angelika Bohr und wirft ihr ein aufmunterndes Lächeln zu. – „Ja, und das will ich auch bleiben, solange es geht.“

    Die Altenpflegerin gibt Frau Rossi die Medikamente und achtet darauf, dass sie ausreichend trinkt. Danach nimmt sie den Pütter-Verband ab, den die Patientin wegen eines offenen Beins tragen muss. „Soll ich Ihnen die Beine eincremen?“, fragt sie, und Frau Rossi nickt. Anschließend versorgt die Altenpflegerin die Wunde mit einem modernen Wundpflaster und legt fachmännisch einen neuen Kompressionsverband an. „Möchten Sie heute duschen?“, fragt sie. „Nein, das muss nicht sein. Ich habe heute keine Lust“, sagt Frau Rossi freiweg. „Warum Duschen, wenn man auch schwimmen gehen kann?“, fragt sie. Angelika Bohr weiß zwar, dass Frau Rossi nicht mehr allein schwimmen gehen kann – aber sie belässt es heute dabei. Stattdessen bietet sie der Patientin an, mal wieder gemeinsam Treppensteigen zu üben, was diese gerne annimmt.

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    Kontakte im direkten Umfeld werden gezielt gefördert

    Da Frau Rossi außer einer Schwester keine Familie vor Ort hat, ist sie oft allein. Ihr Mann ist früh gestorben, Kinder gab es keine. „Die Einsamkeit ist nicht so schön“, sagt sie selbst. Die Pflegenden organisieren daher regelmäßig Cafébesuche mit einer anderen Dame, die im selben Haus wohnt. Sie sind auch im Kontakt mit der Nachbarin, die gelegentlich für Frau Rossi einkauft. Das gehört zum Modellprojekt „Pflege ganz aktiv“ dazu: Die Pflegenden und Alltagsbegleiter fördern aktiv Kontakte im direkten Umfeld – ob mit Familie, Freunden oder Nachbarn –, die mal auf einen Besuch oder einen Spaziergang vorbeikommen.

    Alle neuen Patienten, die zum Pflegedienst kommen, können frei auswählen, ob sie ins Modellprojekt möchten oder nicht. „Fast alle entscheiden sich für die Zeitvergütung“, sagt Pflegedienstleiterin Katharina Minor. Denn die Vorteile liegen auf der Hand: „Die Pflegenden können das machen, was aktuell gebraucht wird. Geht es einer Patientin zum Beispiel psychisch schlecht, weil ihr Mann vor einem Jahr gestorben ist, können sie darauf eingehen. Sie sind nicht – wie im üblichen Modell – gefordert, die Morgentoilette durchzuführen, nur weil diese vorab gebucht war“, erklärt Minor. Im straffen Modulsystem der Pflegeversicherung gehe gerade die psychosoziale Begleitung oft unter.

    Wie funktioniert die Finanzierung?

    Abgerechnet wird im Modellprojekt nach einer pauschalen Stundenvergütung. 15 Minuten Pflege kosten etwa 21 Euro, das macht bei einer Stunde rund 84 Euro. Zusätzlich können Betreuung und Haushaltsführung gebucht werden, zum Beispiel Beschäftigung und Unterstützung beim Einkaufen, Essen zubereiten oder Reinigen der Wohnung. 15 Minuten Betreuung kosten etwa 13 Euro, 15 Minuten Haushaltsführung rund 11 Euro. Hinzu kommt bei allen Leistungen eine Anfahrtspauschale von gut 9 Euro.

    „Kommen neue Patienten ins Projekt, setzen wir uns mit ihnen und den Angehörigen zusammen. Wir schauen, was sie wünschen und wie viel Zeit von der Pflegeversicherung finanziert wird“, erklärt Michaela Salziger, ebenfalls Pflegedienstleitung der Caritas Sozialstation Lahnstein, die bedürfnisorientierte Pflege. Hat eine Person zum Beispiel Pflegegrad 3, könnte eine Pflegefachperson an sieben Tagen die Woche etwa 30 Minuten kommen, und die Kosten wären über die Pflegesachleistungen der Pflegeversicherung abgedeckt. Würde die Pflegeperson jeden Tag 45 Minuten kommen, wäre bei der gleichen Person ein Eigenanteil von rund 525 Euro erforderlich.

    Pflegedienst leistet passgenaue Beratung

    „Wir beraten individuell, was für das vorhandene Geld machbar ist“, sagt Salziger. „Das kann auch bedeuten, dass wir nur drei- oder fünfmal pro Woche kommen, sodass am Wochenende zum Beispiel die Angehörigen übernehmen.“ Werden Betreuungs- und hauswirtschaftliche Leistungen genutzt, können zudem der Entlastungsbetrag und Leistungen der Verhinderungspflege eingesetzt werden. Medizinische Leistungen wie Insulininjektionen, Medikamentengabe oder Verbandwechsel werden weiter von der Krankenversicherung finanziert. Sie gehen nicht zulasten der Leistungen der Pflegeversicherung. Die Patienten zahlen jedoch einen kleinen Eigenanteil pro Verordnung.

    Bedürfnisorientierte Pflege berücksichtigt Tagesform

    Angelika Bohr ist den ganzen Vormittag unterwegs. Sie misst Blutzucker, spritzt Insulin, richtet Medikamente, unterstützt beim Duschen, leitet Angehörige an und vieles mehr. Ihr letzter Patient ist heute Franz Wellert*, der vor einem dreiviertel Jahr einen Schlaganfall hatte und jetzt zu Hause von seiner Ehefrau gepflegt wird. Der 83-Jährige lag zehn Wochen im Krankenhaus und kam anschließend in die Reha. „Danach ging es langsam bergauf und er konnte endlich nach Hause kommen“, erzählt Gertrud Wellert. Ihr Mann hat heute Pflegegrad 5 und benötigt umfassende Pflege. Viele Pflegeaufgaben übernimmt sie selbst, zusätzlich kommt jeden Tag für 45 Minuten der Pflegedienst. Auch die Ergo- und Physiotherapie sowie Logopädie sind regelmäßig vor Ort.

    „Für uns ist das Projekt genau das Richtige“, freut sich Gertrud Wellert über die bedürfnisorientierte Pflege. Sie kann je nach Tagesform ihres Mannes mitentscheiden, was in diesen 45 Minuten gemacht wird. Ihr ist es zum Beispiel wichtig, dass ihr Mann mindestens dreimal pro Woche geduscht wird – früher habe er schließlich jeden Tag geduscht.

    Mittlerweile hat ihr Mann viele Fortschritte gemacht: „Er hat sich super von der Sprache entwickelt und kann auch seine rechte Hand wieder besser bewegen“, erzählt sie. Seit einigen Wochen könne er sogar selbstständig wieder essen – wenn auch mit der linken Hand. „Wir haben großes Glück gehabt.“

    Selbstbestimmtheit der Pflegebedürftigen und die Rolle der Angehörigen stärken

    Der große Vorteil des Projekts ist die bedürfnisorientierte Pflege, die die Selbstbestimmtheit der pflegebedürftigen Person und auch die die Rolle der Angehörigen stärkt. Denn sie kennen die Pflegebedürftigen am besten und wissen, was sie brauchen.

    Ein weiterer wichtiger Benefit: Die Pflegenden sind deutlich zufriedener, wenn sie nach diesem Modell arbeiten. Viele sagen: „Ich fühle mich nicht mehr so gehetzt“ oder: „Endlich kann ich wieder das anbringen, was ich gelernt habe.“ Das Projekt setzt damit auch dem Fachkräftemangel in der Pflege aktiv etwas entgegen. „Es ist einfach schön, so zu arbeiten“, findet Angelika Bohr. „Mit diesem Projekt sind wir auf einem sehr guten Weg, um die dringend benötigten Fachkräfte in der Pflege zu halten.“

    *Alle Namen der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen wurden von der Redaktion geändert.

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