Pflegende Kinder und Jugendliche: Frühe Verantwortung
Krankheit betrifft immer auch die ganze Familie. Dieser Satz aus der Familienmedizin verdeutlicht, dass jedes Familienmitglied von den Auswirkungen der Krankheit eines Angehörigen betroffen ist.
Auswirkungen von Krankheit auf Kinder
Ganz praktisch werden Aufgaben und Rollen innerhalb der Familie neu verteilt. Der Familienalltag kann sich stark verändern und Gewohntes ist manchmal nicht mehr möglich. Die Campingurlaube am Meer oder das Abholen vom Fußballtraining werden zu organisatorischen Herausforderungen. Auch emotional müssen Kinder und Jugendliche viel verarbeiten.
Ihnen wird bewusst, dass enge Familienmitglieder eben nicht „unzerstörbar“ sind, und sie lernen Tod und Trauer in jungen Jahren kennen. Der Vater ist nach dem Schlaganfall dann oft nicht mehr der agile Spielkamerad, die MS-erkrankte Mutter kann irgendwann nicht mehr mitbasteln, kochen oder mit auf den Spielplatz und die demenzerkrankte Oma verhält sich manchmal unerklärlich.
Je nach sozialen, persönlichen und finanziellen Ressourcen der Familien können diese Kinder und Jugendlichen eher gut oder eher schlecht auf die neue Situation reagieren und eine altersgerechte Kindheit oder Jugend erfahren. Kinder und Jugendliche mit weniger Ressourcen haben daher ein höheres Risiko für psychische Krankheiten oder Anpassungsstörungen. Das gilt umso mehr, wenn sie auch Pflege- und Versorgungsverantwortung übernehmen.
Kinder und Jugendliche übernehmen Pflegeaufgaben
Eine Studie von Prof. Dr. Metzing von der Universität Witten/Herdecke lieferte 2018 zum ersten Mal Daten dazu, wie viele Kinder und Jugendliche durch Krankheit und Pflege in der Familie betroffen sind. 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben ein Familienmitglied mit einem krankheitsbedingten Hilfe- oder Pflegebedarf.
Zwei Drittel dieser jungen Menschen gaben an, dass sie Aufgaben in der Pflege und Versorgung übernehmen und ca. ein Drittel in einem Ausmaß, das sie als pflegende Angehörige klassifizieren würde. Das entspricht ca. sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland.
Sie übernehmen dabei Pflegeaufgaben, wie es auch erwachsene pflegende Angehörige tun: Sie helfen bei der Mobilisation, beim Essen, bei der Medikamentengabe und im Haushalt. Aber auch Körperpflege, das An- und Ausziehen und in selteneren Fällen Intimpflege werden von Kindern und Jugendlichen tagtäglich übernommen. Doch wie kommt es dazu?
Warum Jugendliche Verantwortung übernehmen
Viele der pflegenden Kinder und Jugendlichen würden ihre „Pflegeverantwortung“ als „normal“, „selbstverständlich“ oder „notwendig“ beschreiben. Kinder, die mit einem beeinträchtigten Geschwisterkind aufgewachsen sind, empfinden beispielsweise oft Pflege in der Familie als normalen Teil des Familienlebens.
Auch wenn Eltern in jungen Kinderjahren erkranken, wird die Besonderheit der eigenen Familiensituation oft erst im jugendlichen Alter realisiert; wenn sie merken, dass die Eltern der Freunde eben keine Pflege oder Hilfe benötigen. Hier kann sich die Pflegeverantwortung als das Mithelfen im Familienalltag etablieren und Kinder lernen dabei von den erwachsenen Familienmitgliedern.
Auch nach plötzlich auftretenden Erkrankungen von Familienmitgliedern übernehmen Kinder und Jugendliche Verantwortung. Das kann zum einen geschehen, wenn zu wenige Personen innerhalb und außerhalb der Familie zur Verfügung stehen, um Pflege, Haushalt und Kinderbetreuung zu übernehmen. Die Kinder füllen dann die entstandenen Versorgungslücken. Zum anderen helfen viele junge Menschen auch deswegen, um eigenen Ohnmachtsgefühlen in solch unkontrollierbaren Situationen etwas entgegenzusetzen.
Je nach kulturellem Hintergrund und Wertesystem in der Familie übernehmen gerade auch ältere Jugendliche – meist Mädchen – Pflegeverantwortung und Verantwortung für Haushalt und Geschwister aus einem selbstverständlichen oder auferlegten Rollenverständnis heraus.
Auswirkungen für Kinder und Jugendliche
Pflegeverantwortung kann für Kinder und Jugendliche Auswirkungen auf ihre psychische und physische Gesundheit haben. Sie kann sich aber auch auf die Lebensbereiche Freizeit, Freunde und Schule auswirken. Je mehr ein Jugendlicher beispielsweise seine MS-erkrankte Mutter unterstützt, je mehr Hausarbeit er übernimmt und den kleinen Bruder zum Fußballtraining bringt, umso weniger Zeit hat er für Freunde und das Lernen für Klassenarbeiten.
So können für Kinder und Jugendliche, die sehr eingespannt in die Care-Aufgaben sind, viele Elemente, die eine „normale“ Kindheit ausmachen, wegfallen. Auch der Kontakt zu Gleichaltrigen kann sich verändern. Einige machen Mobbingerfahrungen, andere verringern den Kontakt von sich aus, weil sie nur noch wenige Gemeinsamkeiten feststellen. Bei ihnen geht es zu Hause viel um Krankheit und Tod – bei den Freunden eher um TikTok- Trends.
Insbesondere wenn sich höhere Pflegeverantwortung manifestiert und die Kinder und Jugendlichen über Jahre begleitet, ohne dass sie die Möglichkeit haben, Aufgaben abzugeben, erhöhen sich die Risiken problematischer Auswirkungen.
In Studien wurden soziale Isolation, psychische Belastungen und Störungen, die sich manchmal erst im Erwachsenenalter zeigen, sowie körperliche Beschwerden aufgrund anstrengender Pflegeaufgaben festgestellt. Auch Bildungschancen können durch wenig Zeit und Konzentration zum Lernen massiv beeinflusst werden.
Gleichzeitig bedeutet aber eine Übernahme von Pflegeverantwortung nicht automatisch eine nachteilige Entwicklung für die Kinder und Jugendlichen. Familien, die es schaffen, dass Kinder und Jugendliche mithelfen dürfen und nur Aufgaben übernehmen, die altersgerecht sind, können sie in ihrer Entwicklung auch fördern.
Das Erleben, dass Krankheit und Tod Teil des Lebens und Care-Aufgaben wertvolle Arbeit sind, können zum Reifeprozess, zur Empathiefähigkeit und zum Kompetenzerwerb beitragen: wichtige Fähigkeiten im späteren Berufs- und Privatleben.
Dabei ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche ohne Schuldgefühle jederzeit Versorgungsaufgaben abgeben können und unangemessene Körper- und Intim-pflegeaufgaben vermieden werden. Eine offene Kommunikation in der Familie über den Umgang mit der Krankheit und die Rollen(bilder) jedes Familienmitglieds sind ebenso wichtig. Kinder sollten darin gestärkt werden, ihre Bedürfnisse mitzuteilen, und auch gehört werden. Die Krankheit und Pflege sollte den Kindern nicht die Kindheit nehmen und Jugendliche nicht in die Rolle von Erwachsenen drängen.
Hilfsangebote annehmen
Es ist oft kein einfacher Prozess für Familien, an den Punkt zu kommen, an dem die Krankheit in ein gut funktionierendes Familienleben integriert wird. Sie verlangt von allen Familienmitgliedern viel ab und erfordert ein hohes Anpassungsvermögen von Kindern und Jugendlichen. Im Laufe einer Krankheit funktioniert dies mal mehr, mal weniger gut. In dauerhaften Krisensituationen ist es aber sehr wichtig, dass Familien es sich erlauben, Hilfe anzunehmen.
Dabei ist die Bandbreite an Hilfen sozialer Einrichtungen oft genauso komplex, wie die Bedürfnisse von Familien, Eltern sowie pflegenden Kindern und Jugendlichen divers sein können. Für Eltern gibt es Anlaufstellen in der Erziehungs- und Familienberatung, für Themen rund um die Pflege sind Pflegeberatungsstellen ein guter erster Anlaufpunkt.
Nur für pflegende Kinder und Jugendliche mangelt es leider oft an spezialisierten Beratungs- und Unterstützungsangeboten – auch aufgrund unklarer Verantwortungsbereiche der Sozialleistungsträger.
Unterstützungsstrukturen, die aktiv auf betroffene Kinder und Jugendliche zugehen, fehlen dabei leider oft. Das liegt daran, dass an Orten wie Schule, wo alle Kinder anzutreffen sind, ein Bewusstsein über Pflegeverantwortung oft fehlt. Viele Fachkräfte, die mit diesen Kindern und ihren Familien im Alltag zusammenarbeiten, würden von einer Sensibilisierung zu Pflege durch Kinder profitieren und könnten dadurch auch einfacher die Betroffenen erkennen und ihnen Hilfe anbieten.
Einige Angebote sind auf der Website des Projekts Pausentaste zu finden. So auch das Projekt „Windschatten“ der Ernst Freiberger-Stiftung in Berlin. Nach britischem Vorbild können betroffene Kinder dort in Gruppenangeboten mit Gleichbetroffenen Freizeit verbringen. Durch ein „time out“ Stipendium mit Taschengeldcharakter können sich Kinder aus finanziell schlechtergestellten Familien zudem aktiv selbst Freizeit und Auszeiten aus der Pflege gestalten. Und auch Eltern werden im Sinne eines familienorientierten Ansatzes beraten und unterstützt.