Neue Wege: Wohngemeinschaften für an Demenz Erkrankte

Neue Wege: Wohngemeinschaften für an Demenz Erkrankte

Die Wohngemeinschaft in der Hamburger Hospitalstraße beherbergt zehn an Demenz erkrankte Menschen. Um ihr Wohlergehen kümmern sich die Mitarbeiter eines Pflegedienstes. Die Geschäfte führen Angehörige und gesetzliche Betreuer gemeinsam
Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz
© iStock.com | Jakob Wackerhausen

Demenz-WG als Alternative zum Heim

Leise öffnet sich die Zimmertür, ein grauer Haarschopf schaut heraus. Es ist fast 10 Uhr, Karen hat lange geschlafen. Sie freut sich auf ihr Frühstück, eine Scheibe Brot mit Käse und eine Tasse Kaffee mit viel Milch. Früher musste sie immer früh aufstehen, sie war Lehrerin in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein. Heute lebt sie in einer Wohngemeinschaft für an Demenz erkrankte Menschen in Hamburg-Altona. Hier kann jeder so lange schlafen, wie er will. Es gibt nur feste Zeiten für das Mittagessen.
Die Demenz der heute 69-Jährigen begann schon mit Ende 50. Sie lebte mit ihrem Mann in einem kleinen Ort an der Ostsee. Erst kleine Gedächtnislücken, in einer fremden Stadt fand sie ihr Auto nicht wieder, Hackfleisch in der Waschmaschine, und warum hat sie so viel Geld beim Bankautomaten abgehoben? Die Probleme wurden immer größer, es gab kleine Unfälle mit dem Auto. Dann ließ sie die gleiche Englischarbeit zum zweiten Mal schreiben.

Als es ganz schwierig wurde, verließ ihr Mann sie. Die Familie musste sich ab jetzt um alles kümmern. Erst mal die Scheidung durchkriegen und dann weitersehen. Aber was tun in einer solchen Situation? Der Vater, inzwischen 91 Jahre alt, lebt in einer Kleinstadt an der Nordsee, der einzige Bruder in Hamburg. Er machte sich zusammen mit seiner Frau auf die Suche, sah sich viele Heime an – und war nicht zufrieden.

Die Angehörigen verwalten die WG selbst

Nach wochenlanger Suche und Recherche im Internet erfährt er über die Alsterdorf Assistenz West von einem neuen Projekt für Demenzkranke in der Hospitalstraße in Hamburg-Altona, das von den Angehörigen selbst verwaltet werden soll. Das Objekt ist noch im Bau: 400 Quadratmeter ist die Wohngemeinschaft (WG) groß, mit offener Küche und zwei Wohnzimmern. Die WG hat zehn Zimmer mit jeweils behindertengerechten Bädern.

Aber jede kleine Wohnung ist nur 14 Quadratmeter groß. Wie kann man darin leben? Karen lebte früher in einem Haus. Wie soll man die Räume möblieren? Fragen über Fragen, auch für die anderen Angehörigen, die ihren Vater oder ihre Mutter dort unterbringen wollen. Zum Glück treffen sie auf Sabine Wannags von der Hamburger Alzheimer Gesellschaft. Sie hilft den Angehörigen bis heute. Und ein Pflegedienst muss gefunden werden, der Karen und ihre Mitbewohner rund um die Uhr betreuen soll.

Ohne Pflegedienst geht es nicht

Die Hamburger Gesundheitshilfe wird engagiert. Sie hat in der Stadt einen guten Ruf, betreut schon ähnliche Objekte. Sie wird in zwei Schichten von zwei bis drei Mitarbeitern in der WG arbeiten, die Nachtschicht bestreiten ausgebildete studentische Hilfskräfte. Mit der Chefin wird alles besprochen: Welche Betten kauft man, welchen Schrank, wie sollten die Gardinen aussehen – hell und fröhlich oder eher gediegen? Wer hat Geschirr für die Küche, wer kann ein Sofa von Schwester, Mutter oder Vater aus seiner alten Wohnung beisteuern? Wer hat noch Bilder, wer hat noch Borde und Schränke für den großen Gemeinschaftskeller? Nach und nach bekommen die riesigen weißen Wände ein Gesicht.

Die Architektin der WG hat mitten im Wohnzimmer an der Wand die Anschlüsse für die Waschmaschinen geplant. Wie kam sie bloß auf die Idee? Wie soll man hier leben, wenn hinter einem gleichzeitig zwei Waschmaschinen und ein Trockner rattern? Zum Glück gibt es neben dem kleinen Gästezimmer noch einen Raum mit Wasseranschluss. Also verschwinden die alten Waschmaschinenanschlüsse hinter einer Schrankwand.

Die Angehörigen treffen sich regelmäßig

Wen setzen wir zu wem, wer passt zu wem? Wer kann noch kommunizieren, wer kann noch an Spielen teilnehmen? Fast jede Woche treffen sich die Angehörigen, um große und kleine Probleme zu klären. Es werden zwei Sprecher gewählt, ein Schatzmeister, jemand, der für Keller und Garten zuständig ist. Es gibt sogar einen Ernährungsbeauftragten.

An Feiertagen, oder wenn Hauswirtschafterin Heike in Urlaub ist, muss jeder mal kochen – für 14 Personen. Auch neue Bewerber werden gemeinsam ausgesucht. Der Bewerber sollte kein Einzelgänger sein, sondern ein aufgeschlossener Mensch, der gern Leute um sich hat. Am wichtigsten sind dabei aber die Angehörigen, die sich zu einem verbindlichen Engagement in der WG verpflichten müssen. „Mein Wochenende ist mir heilig“ – wer mit diesem Ansatz in die WG kommt, um die kranke Mutter oder den Vater hier abzugeben, ist völlig falsch.

Die Angehörigen haben das Hausrecht und die Schlüsselgewalt, bestimmen die täglichen Abläufe: Was muss an Essensgeld gezahlt werden, welche Reinigungsfirma wird beauftragt – sowohl für die privaten als auch für die Gemeinschaftsräume? Es fehlt noch das Geld für die letzte Fensterputz-Aktion – jeder möge bitte noch zehn Euro in die Gemeinschaftskasse legen. Im 3. Quartal 2014 gab es wegen einer kaputten Waschmaschine und einer neu verlegten Terrasse mehr Ausgaben als Einnahmen.

Die Demenz nicht wegschieben, sondern mit ihr leben

Sie haben aber nicht nur die Verantwortung, was die Finanzen betrifft. Sie müssen dafür sorgen, dass eine Bewerberliste geführt wird, damit ein Zimmer zeitnah wieder vergeben werden kann, falls jemand stirbt. Auch wenn Vermieter und Pflegedienst keinen Druck machen, muss doch nach spätestens ein paar Monaten der frei gewordene Platz wieder belegt sein.

Auch sind sich alle Angehörigen darüber einig, dass die WG in Altona die letzte Station für ihre Lieben ist: Wer hierher kommt, darf auch „zu Hause“ sterben, wird nach Möglichkeit in seinen letzten Tagen nicht in ein Krankenhaus oder Hospiz verlegt. Der Pflegedienst der Hamburger Gesundheitshilfe verfügt über eine eigene Palliativabteilung, die dann den Pflegern zur Seite steht.

Die meisten der Angehörigen haben sich inzwischen bei Vorträgen oder Seminaren über Demenz weitergebildet, wie mit der Krankheit ihrer Lieben umzugehen ist. Es ist nicht einfach, diese Krankheit zu akzeptieren, zu sehen, wie die geliebte Mutter plötzlich alles vergisst, an manchen Tagen sogar die eigene Tochter nicht mehr erkennt. Hier brauchen auch die Angehörigen Hilfe. Sie müssen zum Beispiel akzeptieren, dass Mutter oder Vater auch das Recht auf „eigene Verwahrlosung“ haben, wenn sie sich über Tage nicht waschen oder pflegen lassen wollen. Dann muss eben ein paar Tage gewartet werden, dann klappt es auch wieder besser.

Hier leben bis zum Schluss

Nach fast drei Jahren ist in der WG in Altona eine gewisse Routine eingekehrt. Die Treffen finden nur noch einmal im Monat statt, es gibt jetzt sogar einen Stammtisch, bei dem sich die Angehörigen auch mal privat austauschen können und nicht nur über das Thema Demenz reden. Es gibt einen neuen Leiter des Pflegedienstes, was natürlich auch für eine gewisse Unruhe gesorgt hat. Man bespricht Fragen: Was bringt das neue Pflegestärkungsgesetz ab Januar 2015? Braucht man weiterhin Musikpaten? Können noch ein paar „Ehrenamtliche“ geworben werden? Wer kennt einen guten Zahnarzt für Demenzkranke? Auch nimmt das Thema Aggression einen größeren Platz ein, wenn Herr Müller nicht mehr mit Frau Krause an einem Tisch sitzen will – aber das kommt ja auch mal in jeder guten Familie vor.

Der Zustand von Ex-Lehrerin Karen hat sich nicht verbessert, aber sie scheint sich in dieser Wohngemeinschaft wohlzufühlen. Sie kann schlafen, solange sie will, sie wird von den Mitarbeitern des Pflegedienstes in den Arm genommen. Wenn ihr Bruder sie besucht, stellt sich nach einer Weile auch ein kleines Lächeln ein. Kein Zustand verbessert sich bei den Bewohnern, von der Pflegestufe eins geht es weiter bis zur Pflegstufe drei. Aber alle Angehörigen haben hier ein gutes Gefühl, das Richtige für ihre Verwandten zu tun. Und alle Angehörigen ziehen jeden Tag den Hut vor den Frauen und Männern, die Tag für Tag im Pflegedienst Schwerstarbeit mit Herz leisten.