Multimorbidität: Hauptsache selbstständig statt Hauptsache gesund
Viele Jahre schon hatte Horst Schmittkes Bluthochdruck, gegen den er Tabletten einnahm. So kam er gut zurecht, fühlte sich einigermaßen wohl und konnte aktiv am Leben teilnehmen. Eines Tages jedoch fand ihn seine Frau bewegungslos im Bad. Die Diagnose: Schlaganfall. Von da an änderte sich sein Leben. An Selbstständigkeit war nicht mehr zu denken. Die Krankengeschichte Horst Schmittkes’ ist ausgedacht. Trotzdem geht es unzähligen Menschen wie ihm: Zu einer chronischen Erkrankung gesellt sich eine zweite und nicht selten eine dritte oder vierte. In Deutschland leiden mehr als 80 Prozent der Frauen über 75 Jahre an mehreren chronischen Krankheiten, Männer sind etwas seltener betroffen. Mediziner sprechen in diesem Fall von Multimorbidität.
Multimorbidität – auch ein Verdienst des medizinischen Fortschritts
„Je älter ein Mensch wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, an Multimorbidität zu leiden“, erklärt Dr. Rupert Püllen, Chefarzt der medizinisch-geriatrischen Klinik am Agaplesion Markus-Krankenhaus in Frankfurt. Das Alter hat also einen Einfluss. Doch so paradox es klingt: Dass immer mehr Ältere an Multimorbidität leiden, ist auch ein Verdienst des medizinischen Fortschritts. Denn Menschen, die heute z. B. ein chronisches Nierenversagen haben, können durch eine Dialyse noch viele Jahre am Leben bleiben, während sie früher vermutlich innerhalb weniger Monate verstorben wären. Die Herausforderung, vor der viele Betroffene stehen: Welche Ärztin oder welcher Arzt ist der richtige für meine Beschwerden? Denn die Medizin spezialisiert sich immer mehr. „Den Generalisten, der von allen Bereichen, die das hohe Lebensalter betreffen, Ahnung hat, gibt es kaum noch“, so Dr. Püllen. Und so suchen Multimorbide mehr als doppelt so häufig die Arztpraxen auf wie Nichtmultimorbide, zeigt eine Auswertung der Gmünder Ersatzkasse aus dem Jahr 2013.
Der Hausarzt ist wichtige Schnittstelle
Eine führende Rolle bei der Behandlung spielen die Allgemeinmediziner, in der Regel also die Hausärzte. Sie haben deshalb eine wichtige Funktion als erste Anlaufstelle und als diejenigen, die die Fäden zusammenhalten – vor allem auch für die medikamentöse Therapie durch die Fachärzte. Denn für multimorbide Patientinnen und Patienten gibt es häufig nicht die eine richtige Therapie. Die Behandlung ist vielmehr eine Frage der Priorisierung: Welche Krankheit oder welches Symptom hat Vorrang? Denn es kann beispielsweise sein, dass ein Medikament zwar eine Blasenschwäche behebt, die Betroffenen aber geistig derart einschränkt, dass sie nicht mehr allein zurechtkommen. „Arzt und Patient müssen deshalb gemeinsam entscheiden, was dem Betroffenen guttut“, sagt Dr. Püllen.
Viele Krankheiten bedeuten viele Medikamente
Es kommt jedoch noch ein weiteres Problem hinzu: Viele Erkrankungen bedingen oft auch viele Medikamente. Ärzte sprechen in diesem Fall von Polymedikation. Zwischen den verabreichten Medikamenten können dann Wechselwirkungen auftreten, wenn sich die Wirkstoffe gegenseitig beeinflussen. Zudem baut ein älterer Körper Medikamente unter Umständen anders ab ein junger. Deren Wirkung kann also stärker ausfallen oder es können unerwartete Nebenwirkungen auftreten. Dr. Püllen rät deshalb, sich vom Hausarzt einen Medikationsplan ausstellen zu lassen. Dieser kann nicht nur helfen, mögliche Wechselwirkungen zu vermeiden oder Nebenwirkungen zu erkennen. „In vielen Fällen lässt sich die Zahl der Medikamente sogar reduzieren, wenn der behandelnde Arzt weiß, welche Medikamente bereits eingenommen werden“, so Dr. Püllen. Denn oftmals wüssten die verschreibenden Ärzte nicht, dass die Betroffenen bereits Medikamente mit ähnlicher Wirkung einnehmen.
Mehr als die Summe der Erkrankungen
Steigt die Zahl der Erkrankungen, sinkt die Lebensqualität. Multimorbid zu sein, bedeutet für die Betroffenen allerdings weit mehr als unter mehreren Krankheiten zu leiden. Denn oft kommen Schmerzen, Blasenschwäche, Sturzgefährdung, eingeschränkte Denkleistung und Immobilität hinzu. „Viel wichtiger als die Erkrankungen ist deshalb der funktionelle Zustand, also das, was ein Patient kann“, erklärt Dr. Püllen. Das bedeutet: Hauptsache selbstständig statt Hauptsache gesund. „Wenn man sich darauf konzentriert, die Selbstständigkeit und damit die Lebensqualität zu erhalten, dann tauchen plötzlich Krankheiten auf, die man gar nicht im Fokus hatte, die aber für die Betroffenen viel wichtiger sind“, so der Facharzt.
Dazu gehören insbesondere Hör- und Sehminderungen. Gutes Hören und gutes Sehen sind die Grundvoraussetzung dafür, am täglichen Leben teilzunehmen und selbstständig zu bleiben – bis ins hohe Lebensalter. Und es hat noch einen weiteren Effekt: Wer gut sieht und hört, kann Stürze vermeiden und bleibt mobil – und kann weiteren Erkrankungen vorbeugen. „Hörverlust sollte deshalb frühzeitig mit Hörgeräten bekämpft werden. Und für gutes Sehen sorgen Brille oder eine Katarakt-OP“, erklärt Dr. Püllen.
Jeder kann jederzeit etwas für seine Gesundheit tun
Seit Beginn der 1970er-Jahre hat sich die Lebenserwartung für 80-Jährige um fast 3 Jahre erhöht. Wir werden also immer älter. Doch Multimorbidität im Alter ist vermeidbar. Altwerden in relativer Gesundheit sollte deshalb das Ziel sein. Vieles davon hat jeder selbst in der Hand, und zwar bereits in jungen Jahren. Doch leider rückt die Gesundheit meist erst im Alter in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Dabei sind es meist die kleinen Dinge, die etwas bewegen: Regelmäßiges Radiohören, Zeitunglesen oder Museumsbesuche halten nachweislich geistig fit. Auch körperliche Bewegung trägt dazu bei, das Gedächtnis zu stärken. Und bereits 5.000 Schritte am Tag, also rund 3.000 Meter, helfen, den Körper gesund zu erhalten. Fettarme Ernährung beugt Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor, Obst und Gemüse Darm- und Blasenkrebs. Und wie Studien zum Gesundheitsverhalten alter Menschen belegen: Selbst Personen, die erst mit 65 Jahren mit dem Rauchen aufhören, leben länger als diejenigen, die weiterrauchen. Multimorbidität und Pflegebedürftigkeit müssen also keine zwingende Folge des Alterns sein. Und eines ist Dr. Püllen bei alledem wichtig: „Trotz steigender Multimorbidität sind die 80-Jährigen in unserem Kulturkreis heute wesentlich fitter als noch vor 30 Jahren.