Frontotemporale Demenz: Mit dem Verlust leben

Frontotemporale Demenz: Mit dem Verlust leben

Ingrid Nachtmann (69) und ihr Mann Hans Joachim (78) führten über 40 Jahre lang eine harmonische Ehe. Vor einigen Jahren begannen Wesensveränderungen ihres Mannes, ihre Beziehung auf eine harte Probe zu stellen. Es folgten Arztbesuche und die Diagnose: Frontotemporale Demenz. Ingrid Nachtmann beschreibt die Erfahrungen, die sie mit der weniger bekannten Demenzform machen musste, und zeigt Bewältigungsstrategien für Angehörige auf.
Ein älterer Mann im Profil, der sich an den Kopf fasst
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„Schlimm war sein Desinteresse …“

Meinen Mann, den ich mit 17 Jahren kennenlernte und 1964 heiratete, habe ich immer aktiv erlebt. Vor gut fünf Jahren begann er, sich stark zu verändern. Er zeigte kein Interesse mehr an seinen Hobbys. Aus einem sehr interessierten, vielseitig begabten Mann wurde ein teilnahmsloser, aber unruhiger Mensch. Er vernachlässigte Haus und Garten, dafür unternahm er große Ausflüge zu Fuß oder per Fahrrad – oft den ganzen Tag oder mehrmals am Tag. Schlimm war sein beginnendes Desinteresse an meiner Person. Er zeigte kein Mitgefühl mehr, kein Interesse an meinem Tun – einfach nichts. Die Ärzte diagnostizierten eine Frontotemporale Demenz.

Ich reagierte zunächst entsetzt und verzweifelt, war aber auch oft wütend und traurig. Tiefe Depression und Sinnlosigkeit machten sich breit. Ich wollte oder konnte die Veränderung nicht verstehen und schon gar nicht akzeptieren. Ich versuchte verzweifelt, dagegen anzugehen, schimpfte, schrie und weinte viel. Andererseits versuchte ich, meinen Mann nach außen zu schützen, suchte Erklärungen für sein Verhalten und baute eine Fassade auf.

Die Situation eskalierte

2010 buchte ich privat einen Kuraufenthalt über Weihnachten und Neujahr für uns beide an der Ostsee. Dieser Aufenthalt endete im Fiasko. Mein Mann blockte alles ab, hatte zu nichts Lust, ließ mich ständig allein und wurde nur aktiv, wenn es etwas zu essen gab. Neben den wirklich reichlichen Mahlzeiten suchte er ständig Ess- und Trinkbares. Am Silvesterabend eskalierte die Situation, und ich bin heute überzeugt, dass ich die Talsohle erreicht hatte.

Dieses Erlebnis brachte jedoch eine Wendung. Ich besann mich auf unsere langjährige Partnerschaft – auf eine liebevolle und sehr enge Beziehung zwischen uns – und begann, mich umfangreich über das Krankheitsbild zu informieren. Ich nahm Kontakt mit anderen FTD-Betroffenen auf, las Bücher über die Erkrankung und suchte nach Fachleuten im Internet. Gleichzeitig baute ich unser Leben entsprechend der Krankheit um. Ich kaufte mir praktische Hilfen für Haus und Garten und hatte dadurch wieder etwas Zeit für mich.

Das Annehmen der Krankheit brachte die Wende

Heute kann ich mich ruhiger und besonnener um meinen Mann kümmern. Ich rege ihn an, etwas zu tun, was ihn früher beschäftigt hat und binde ihn in alle Aufgaben ein – manchmal mit einem Zeitaufwand, der in keinem Verhältnis zum Ergebnis steht. Ich schimpfe und tobe nicht mehr, wenn er wieder in Geschäften rumschnüffelt und Essbares stiehlt, sondern halte ihn nach Möglichkeit unmerklich davon ab. Das bedeutet aber auch, dass ich ihn auf seinen täglichen langen Spaziergängen verfolge, um bei Bedarf einzugreifen.

Ich trauere seinen Hobbys und Interessen, seiner Vielfältigkeit nicht mehr nach, sondern konfrontiere ihn – im Rahmen seiner Möglichkeiten – ständig damit:

  • Wir gehen wieder in Museen, besuchen Konzerte und andere Veranstaltungen. Scham und Angst davor, dass er sich falsch benimmt, versuche ich zu ignorieren. In manchen Fällen erkläre ich kurz sein Verhalten oder lenke ihn ab.
  • Wir reden über diese Besuche und ich erzähle auch wieder von Aktivitäten, die ich allein unternehme. Kommt Resonanz, freue ich mich – kommt nichts, gehe ich zum nächsten Thema über.
  • Ich habe einen „Unternehmertag“ eingeführt. Einmal in der Woche wird etwas unternommen: Stadtbummel, Fahrten in die nähere Umgebung oder auch Stadtbesichtigungen in Städte, die wir kennen. Es ist erstaunlich, wie viele Anregungen zu Gesprächen an diesen Orten kommen oder auch, wie wir in liebevollen Erinnerungen schwelgen können.
  • Wir besuchen seine Ausgrabungsstellen, wo er als Hobbyarchäologe selbst tätig war, und reden darüber.

Ingrid Nachtmann sagt:

„Ein Demenzkranker ist kein beschränkter, sondern nur ein eingeschränkter Mensch.“

Struktur für den Alltag

In unserem Alltag habe ich eine Struktur aufgebaut. Unser Tagesablauf wird von seinen stundenlangen Spaziergängen über acht bis zwölf Kilometer dominiert. Er geht allein, aber ich bin immer um ihn herum. Zum Glück bin ich Langstreckenläuferin und nehme es als Training.

Leider muss ich immer öfter eingreifen, da er nicht nur Geschäfte absucht, sondern auch immer öfter auf privaten Grundstücken, in Garagen und sogar in Mülleimern nach Essen sucht. Er isst alles, was er findet. Hier versagt oft meine Geduld, und ich greife ihn verbal stark an. Dieses ungebremste Essverhalten beeinträchtigt leider auch viele Aktivitäten. Ob Weihnachts-, Handwerker- oder Bauernmärkte: Überall muss ich ihn von Essbarem weghalten.

Abends schauen wir gemeinsam Fernsehen; dabei suche ich Dokumentationen, Reiseberichte, Talkshows oder auch mal eine Quizsendung aus. Tier- und Naturdokumentationen nimmt er sehr interessiert auf, ebenso Reiseberichte, besonders über Städte oder Länder, die er kennt. Um frühere Schwierigkeiten und durch mein ungeschicktes Verhalten oft eskalierende Situationen zu vermeiden, habe ich auch hier einen Zeitplan beziehungsweise eine Struktur eingerichtet: Nachrichten nach dem Essen, dann noch eine Stunde fernsehen und darüber reden und um 22 Uhr der Gang ins Badezimmer und dann ins Bett.

Das Zu-Bett-Gehen ist wesentlich entspannter geworden. Es gibt nur noch kurze Widerstände, die mit Ablenkung und erneuter Aufforderung überwunden werden. Früher hatten wir oft lange Debatten, da er nie ins Bett wollte. Jetzt frage ich ihn, ob er müde ist und im Bett noch Musik zum Einschlafen hören möchte. Ich reagiere nicht auf Widerspruch, mache Licht in Diele, Bad und Schlafzimmer und fordere ihn einfach auf, mitzukommen. Im Bett gebe ich ihm einen Gute-Nacht-Kuss und werde oft mit einem Gegenkuss belohnt, und dann hören wir noch etwas ruhige, schöne Musik. Er schläft gut und schnell ein.

Achtung und Respekt bewahren

Wir haben einen gemeinsamen Weg gefunden, den wir weitergehen können, ohne zu verzweifeln. Und ich bewahre mir die Achtung und den Respekt vor meinem Mann. Er ist für mich der geliebte Partner – anders als vor der Krankheit, aber genauso wertvoll und liebenswert. Ein Demenzkranker ist kein beschränkter, sondern nur ein eingeschränkter Mensch.