Bipolare Störung: Pendeln zwischen zwei Polen

Bipolare Störung: Pendeln zwischen zwei Polen

Der gemeinsame Alltag mit einem psychisch erkrankten Menschen ist nicht leicht. Mit viel Willenskraft, Einfühlungsvermögen und Unterstützung aber zu meistern. Das zeigt die Geschichte von Karl Heinz Möhrmann (81) und seiner Frau Erika (78), die an einer bipolaren Störung erkrankt ist.
Eine Frau lacht.
GettyImages/sdominick

Karl Heinz Möhrmann ist ein Macher. „Ich muss etwas tun“, sagt er, „etwas bewegen, das war mein Leben lang so.“ Er war viele Jahre als Elektroingenieur bei einem internationalen Technologiekonzern tätig. Heute, als Rentner, hat er mehrere Ehrenämter. Er engagiert sich in Verbänden von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen.

Möhrmann ist 20, als er seine spätere Frau Erika bei einem Faschingsfest kennenlernt. Sie ist hübsch, nett und einfühlsam. Und sie lacht gern über seine Witze. 1967 heiraten die beiden. Erika kauft ihm den Hochzeitsanzug, als Schneiderin verdient sie da noch mehr als er. „Das war aber nicht der Grund, warum ich sie geheiratet habe“, lacht er.

Ein Jahr später aber verändert sich die junge Frau auffallend. Sie beginnt, ihn zu beschimpfen, macht ihm Vorwürfe, wird aggressiv. Möhrmann glaubt, sich in seiner Frau getäuscht zu haben, zweifelt an sich und an seiner Ehe. Als es für ihn unerträglich wird, geht er zum Scheidungsanwalt. Kurz danach eskaliert die Situation zu Hause und Erika Möhrmann wird in die Psychiatrie eingeliefert. Sie habe eine „bipolare affektive Störung“, lautet die Diagnose.

Eine zunächst fremde Welt

Heute erklärt Karl Heinz Möhrmann anderen, was das heißt: Die Betroffenen schwanken zwischen den beiden Polen Depression und Manie. Die Krankheit verläuft in Schüben – dazwischen kann es auch ganz normale Zeiten geben.

Damals aber sind psychische Erkrankungen auch für ihn totales Neuland. Sein erster Besuch bei Erika in der Psychiatrie zeigt ihm eine fremde Welt: „Zwölf Kranke in einem Saal. Zwei strenge Ordensschwestern wachten über alles.“ Das erschreckt ihn – und trotzdem ist der junge Ehemann erleichtert: „Meine Frau ist nicht böse, sondern krank.“ In manischen Phasen haben die Menschen ein übersteigertes Selbstbewusstsein bis hin zu Größenwahn, sie sind wie getrieben, wollen immer reden, brauchen kaum Schlaf. Als Möhrmann das erfährt, kann er das seltsame Verhalten seiner Frau endlich einordnen.

Das Leben gleicht einer Berg- und Talfahrt

Aber kann er damit auch leben? Der Elektroingenieur will es zumindest versuchen. Denn er liebt Erika. Seine Scheidungsklage zieht er zurück. Das verstehen nicht alle. „Also, ich würde mich an deiner Stelle scheiden lassen“, meint ein Bekannter. „Und mir eine gesunde Frau suchen, mit der ich eine Familie gründen kann.“ Manche Freunde melden sich gar nicht mehr. Auch ein Teil der Verwandtschaft zieht sich zurück. Aber Möhrmanns Mutter hält zu dem jungen Paar, dessen gemeinsames Leben einer Berg- und Talfahrt ähnelt.

Erika wird mit Psychopharmaka behandelt, aber rutscht immer wieder in Krisen. In manischen Phasen läuft sie häufig weg. Einmal bekommt ihr Mann einen Anruf von der Polizei. Eine Frau habe sich vor die S-Bahn geworfen, man vermute, es sei Erika, die er zuvor als vermisst gemeldet hat. Mit furchtbaren Ängsten geht er zur Polizeiwache. Seine Frau sitzt in einer Zelle – zum Glück ist ihr nichts passiert. Im Krankenwagen bringt man sie in die Psychiatrie.

An die 20-mal wird Erika in Kliniken stationär behandelt. Das letzte Mal im Jahr 2020, da bleibt sie fast ein Dreivierteljahr. Ihr Mann kann sie wegen Corona kaum besuchen, das ist besonders hart.

Die guten Tage genießen

Zwischen den Krankheitsschüben gehe es ihr gut und sie sei die liebenswerte Frau, die er kenne, sagt Möhrmann. Das Paar bleibt kinderlos. In ihrem Beruf kann Erika nicht mehr arbeiten. Gelegentlich nimmt sie andere Tätigkeiten an, bis sie schließlich verrentet wird. Oft begleitet sie ihren Mann, der begeisterter Bergwanderer ist, auf Reisen, dann hängen die beiden noch eine Woche Urlaub dran – auf Teneriffa oder Madeira. Es gibt viele gute Tage, und Möhrmann hat gelernt, diese zu genießen, in dem Bewusstsein, dass sich das Blatt jederzeit wieder wenden kann.

Er erkennt mittlerweile die Frühwarnsymptome und horcht z. B. auf, wenn seine Frau immer später ins Bett geht und frühmorgens schon wieder in der Küche zugange ist. Was er dann machen kann? Er spricht mit ihr und bittet sie, zum Psychiater zu gehen, bevor es schlimmer wird. „Es gibt den ‚Point of no Return‘“, sagt er. Den Moment, in dem sich das Krankheitsgeschehen nicht mehr aufhalten lässt, zumindest nicht ohne professionelle Hilfe.

So paradox es klingt: Das Problem bei der Manie ist, dass die Betroffenen sich gut fühlen. Sie haben keine Krankheitseinsicht und wollen deshalb auch nicht zu einer Ärztin oder einem Arzt. In den depressiven Phasen ist es anders. Da leidet sie und sucht mit ihm nach Auswegen und Lösungen. Es ist hart für ihn, seine Frau unglücklich zu sehen, aber sie sind dann ein Team. In manischen Phasen rückt Erika von ihm weg, er erreicht sie nicht mehr. Und oft wird er eben selbst zur Zielscheibe ihrer Aggressionen.

Verständnis entwickeln

Wie hält er das aus? Möhrmann sagt, es sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen, die Scheidungsklage zurückzuziehen. Aber manchmal geht er morgens verzweifelt zur Arbeit, voller Sorge, wie es zu Hause weitergehen soll. Seine Arbeit ist oft genug ein Rettungsanker. Sie lenkt ihn ab, zwingt seine Gedanken in eine andere Richtung, außerdem bekommt er hier viel Anerkennung. In seinem Spezialgebiet Nachrichtentechnik wird er zum gefragten Experten.

Gleichzeitig nutzt er jede freie Minute, um mehr über die Krankheit seiner Frau zu erfahren. Er recherchiert, spricht mit den Ärztinnen und Ärzten, fragt in den Kliniken nach. Er ist ein streitbarer Angehöriger, lässt sich nicht einfach in die zweite Reihe schieben. „Ich lebe ja tagtäglich mit meiner Frau. Ich muss doch wissen, warum sie wie behandelt wird“, sagt er. Das Wissen um die Erkrankung hilft ihm, Verständnis zu entwickeln. Und das, was sie in der Krankheitsphase sagt, nicht persönlich zu nehmen. „Das muss man üben“, weiß Möhrmann. „Ich sage mir in dem Moment immer: ‚Sie ist jetzt krank.‘“ Er versuche, ruhig und gelassen zu bleiben. „Wenn mir das nicht gelingt, sage ich ganz entschieden: ‚Ich brauche jetzt mal fünf Minuten für mich‘, und mache die Tür zu meinem Zimmer zu.“

Hilfe annehmen

Viele Ehen zerbrechen unter so einer Belastung. Eine Psychotherapeutin, die seine Frau behandelt, schlägt den Möhrmanns vor, eine Paartherapie zu machen. Diese läuft über mehrere Jahre. „Ich würde das jedem empfehlen“, sagt Möhrmann. Eine eigene Therapie macht er nicht, würde sich aber nicht scheuen, eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten aufzusuchen, wenn er jemanden zum Reden bräuchte.

Denn dass man darüber reden muss, das hat er schnell gemerkt: Schon in den ersten Jahren nach dem Ausbruch der Krankheit sucht er nach Gleichgesinnten. Er geht zu Angehörigen-Selbsthilfegruppen, findet Menschen, mit denen er sich austauschen kann, knüpft neue Freundschaften. Das Netz wird immer dichter und trägt ihn durch viele Krisen. „Manchmal ist man einfach am Ende. Dann tut es gut, wenn man jemanden anrufen kann, der das kennt. Einfach nur, um zu erzählen.“ Wie es seine Art ist, engagiert er sich auch hier, übernimmt Ämter. Bald moderiert er eine Selbsthilfegruppe, stößt auf den bayerischen Landesverband der Angehörigen psychisch Kranker e. V., übernimmt dort den Vorsitz und später auch den stellvertretenden Vorsitz im Bundesverband. Viele Stunden in der Woche widmet er dieser Tätigkeit, hält Vorträge, hört sich die Geschichten verzweifelter Menschen an, die ihre Liebsten nicht mehr wiedererkennen.

Seine Frau braucht zurzeit (nach einem Unfall) auch körperliche Hilfe, sie hat Pflegegrad 2 und wird von ihrem Ehemann versorgt. Überfordern ihn die Ehrenämter da nicht? „Im Gegenteil“, so Möhrmann. „Auch wenn die Versorgung meiner Frau und was damit zusammenhängt zeitweise recht belastend ist, sind meine ehrenamtlichen Tätigkeiten mein Lebenselixier. Ich habe tolle Kontakte und interessante Gespräche. Kann etwas bewegen.“ Man müsse sich jeden Tag etwas vornehmen, damit es einem gut gehe. Das mag für manche ein Spaziergang sein oder das Lesen eines guten Buchs. Für ihn sei das eben diese Arbeit.