Angehörige auf der Intensivstation: Mit Worten Kraft geben

Angehörige auf der Intensivstation: Mit Worten Kraft geben

Liegt ein Familienmitglied auf der Intensivstation, leiden die Angehörigen mit. Sie fühlen sich hilflos und leben zwischen Bangen und Hoffen – oft über Wochen und Monate hinweg. Was hilft ihnen, diese Zeit zu überstehen?
Angehörige auf der Intensivstation: Mit Worten Kraft geben
GettyImages/ Dean Mitchell

Als Susann May* ihre Tochter zum ersten Mal auf der Intensivstation sieht, erschrickt sie. Mit den vielen Wassereinlagerungen sieht sie sehr verändert aus. „Das ist nicht meine Anna*“, denkt sie. Eine Woche liegt ihre Tochter im Koma, und Susann bleibt jeden Tag bei ihr. „Ich habe Anna gestreichelt, mit ihr gesprochen, mit den Ärzten geredet, meine Familie auf dem Laufenden gehalten und immer wieder auf die Monitore geschaut. Sonst konnte ich nichts tun“, sagt sie.

Die 25-jährige Anna ist an einer Meningokokken-Sepsis erkrankt und entwickelt kurz nach ihrer Aufnahme ein Waterhouse-Friderichsen-Syndrom, eine schwere Komplikation der Sepsis. Dabei können Hände und Füße betroffen sein und in kurzer Zeit absterben.

Annas Hände haben schwere Nekrosen, können aber gerettet werden. Ihre beiden Unterschenkel müssen amputiert werden. Lange Zeit ist ihr Zustand kritisch und die größte Angst ihrer Mutter ist, entscheiden zu müssen, ob die Apparate abgestellt werden sollen. „Die Ohnmacht war das Schlimmste“, sagt sie im Nachhinein. „Mich hat einfach nur die Hoffnung getragen, dass die Folgeschäden nicht zu schlimm sind.“

Was Angehörige besonders belastet

Es ist eine Extremsituation, die Angehörige auf der Intensivstation durchleben: die Angst um den geliebten Menschen, die Ungewissheit, wie es weitergeht, die hoch technisierte, unpersönliche Umgebung. Für die Angehörigen ist die Intensivstation ebenso bedrohlich wie für die Patientinnen und Patienten (im Folgenden: Patienten) selbst – mit dem Unterschied, dass sie die Gefahr, in der das Familienmitglied schwebt, bei vollem Bewusstsein mitbekommen.

„In diesen zwei Wochen hatte ich sehr viel Angst“, berichtet Maria Köster* vom Intensivaufenthalt ihres Mannes. Es sind die typischen quälenden Fragen: „Wird er das überleben? Wird er danach geistig wieder voll da sein? Überhaupt: Wie wird es weitergehen?“

Als sehr belastend erleben die Angehörigen auch die vielen Entscheidungen, die sie immer wieder treffen müssen, wie: Soll eine Lungenspiegelung gemacht werden? Soll eine neue Ernährungssonde in Narkose gelegt werden? „Ich hatte schreckliche Angst, das Falsche zu entscheiden“, sagt Silke Weiß*.

Besonders schwerwiegend sind dabei die Entscheidungen, die das Lebensende betreffen: Sollen bestimmte Medikamente abgesetzt werden? Oder gar: Sollen die Maschinen abgestellt werden? „Wie sollte ich das entscheiden? Das hat mich absolut überfordert“, erzählt Christina Laumer*. „Denn einerseits war klar, meine Mutter will das so nicht mehr, andererseits zeigte sie in den etwas besseren Phasen immer noch einen starken Lebenswillen. Ich war hin- und hergerissen.“

Eine psychische Ausnahmesituation

Angehörige werden Zeuge einer lebensbedrohlichen Situation, die oft Wochen oder sogar Monate anhält. Sie haben massive Ängste, fühlen sich allein und müssen trotzdem weiter funktionieren – eine psychische Ausnahmesituation. Angst, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen, kurz PTBS, können die Folge sein. Studien zeigen: Oft leiden die Angehörigen häufiger an psychischen Symptomen als die Patienten selbst.

Doch wie können psychische Belastungen der Angehörigen reduziert werden? Mit dieser Frage beschäftigen sich verschiedene Forschungsarbeiten. In diesen wird deutlich, dass eine gute, stärkende Kommunikation einen wesentlichen Einfluss hat.

Ein wertschätzendes Gespräch, bei dem die Angehörigen ihre Gefühle verbalisieren können, ihnen zugehört wird und sie ermutigt werden, Fragen zu stellen, kann Belastungen reduzieren. Wichtig ist zudem, dass Angehörige in die Pflege des erkrankten Familienmitglieds eingebunden werden, ausreichend Informationen durch das medizinische Fachpersonal erhalten und durch ein multiprofessionelles Team inklusive Psychologinnen und Psychologen sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter betreut werden.

Spricht man mit Angehörigen, wird deutlich, wie entscheidend es ist, dass sie wirklich jederzeit auf die Intensivstation dürfen und sich hier willkommen fühlen. „Ich durfte auf der Intensivstation von morgens bis abends bei ihr sein – dafür war ich sehr dankbar“, sagt Susann May. Auch durfte sie kleinere pflegerische Maßnahmen übernehmen, was ihr das Gefühl gab, etwas zur Genesung ihrer Tochter beitragen zu können.

Angehörige schätzen es, wenn sie sich angeleitet und ermutigt fühlen, mit dem Intensivpatienten zu sprechen und ihn zu berühren. „Wir waren nie eine Familie, in der es körperlich viel Nähe gab“, erzählt Christina Laumer. „Aber als meine Mutter so krank war, habe ich damit angefangen – auch ermutigt durch die Pflegenden. Ich habe sie in die Arme genommen, sie geküsst und ihr gesagt: ,Ich hab dich lieb.‘ Ich habe gedacht, wenn ich es jetzt nicht mache, dann kann ich es bald nicht mehr tun.“

Kleine Rettungsanker in schweren Zeiten

Als tröstlich wird erlebt, wenn das Fachpersonal zugewandt, empathisch und wertschätzend ist. Susann May erinnert sich, wie eine Pflegende zu ihr sagte: „Sie haben Unglaubliches geleistet in diesen Wochen!“ „Das hat mich so angerührt, dass mir die Tränen gekommen sind“, sagt Susann May. „Insgesamt haben wir viel Empathie, Menschlichkeit und Bestärkung erfahren. Diese Menschlichkeit ist wichtiger als alle Professionalität.“

Oft sind es Kleinigkeiten, die den Ausschlag geben: ein aufmunternder Blick, ein Lächeln, eine Berührung. „Als Rettungsanker habe ich die Pflegenden und Ärzte empfunden, in deren Augen ich Wärme sah“, erzählt Silke Weiß. „Jeden Tag hoffte ich, einen von ihnen bei meinem Mann anzutreffen. Sie waren ruhig, erfahren und lieb. Stellten uns Stühle bereit, boten uns Getränke an und mir abends auch schon einmal etwas zu essen. Immer wenn sie da waren, bin ich beruhigt nach Hause gegangen.“

Auch wie die Pflegenden sowie Ärztinnen und Ärzte mit dem Patienten selbst umgehen, spielt eine wichtige Rolle. „Ich habe mich auf diejenigen konzentriert, die mir guttaten, diejenigen, die meinem Mann respektvoll begegneten“, sagt Silke Weiß. „Die einfach lieb zu ihm waren. Diejenigen, denen ich Fragen stellen durfte, die auch meinem Mann erklärten, was sie taten, auch als er bewusstlos war. Diejenigen, die ihn und mich anlächelten.“

„Ohne meine Familie hätte ich das nicht geschafft“

Heute weiß man, wie wichtig die Anwesenheit von Angehörigen für Intensivpatienten und ihre Genesung ist. Zahlreiche Studien bestätigen: Angehörige sind Familie und kein Besuch! Sie sind lebensnotwendig. Sie geben Zuversicht und Hoffnung und sind ein wichtiges Bindeglied zur Realität. Viele Patienten sagen im Nachhinein: „Ohne meine Familie hätte ich das nicht geschafft.“

Das war auch bei Anna so, der 25-jährigen Patientin mit Meningokokken-Sepsis und Amputation der Unterschenkel. Sie wachte nach einer Woche aus dem Koma auf. „Als ich gesehen habe, dass Mama da ist, wusste ich, alles wird gut“, sagte sie später. Doch bis dahin lag noch ein weiter Weg mit vielen Klinikaufenthalten vor ihr.

Ihre Mutter Susann erinnert sich noch gut an den Tag, als Anna ihr und ihrem Mann aus der Rehaklinik ein Video schickte – fünf Monate nach dem Intensivaufenthalt. Es zeigt, wie Anna mit ihren beiden Prothesen selbstständig die ersten Schritte macht. „Wir haben so geweint vor Freude! Ich hätte nicht gedacht, dass sie es so schnell schafft. Ich bin so stolz auf sie.“

*Alle Namen der Angehörigen und Patientinnen wurden geändert. Die Zitate sind zahlreichen Gesprächen entnommen, die für das Buch „Auf der Intensivstation“ zwischen September 2020 und Dezember 2021 geführt wurden.

Literatur erhalten Sie auf Anfrage bei den Autorinnen.