Altersanzug: Wie es sich anfühlt, alt zu sein
Bereits nach wenigen Treppenstufen runter Richtung Haustür wird mein Atem schwer. Beim Gedanken daran, die Stufen gleich wieder hinauflaufen zu müssen, zweifle ich, ob das wirklich sein muss. Treppab war schließlich schon anstrengend genug. Dr. Roland Schoeffel hat mich heute mehr als 30 Jahre älter gemacht, statt 39 bin ich etwa 70. Dafür hat mir der Wissenschaftler einen rund 16 Kilogramm schweren Anzug verpasst mit Gewichtsmanschetten an Fuß- und Handgelenken, verstärkten Bandagen an Knien und Ellenbogen und einer Halskrause. Außerdem hat er mir weitere Gewichte verpasst, die an Oberkörper und Rücken verteilt sind und den altersbedingten Kraftverlust der Rumpfmuskulatur simulieren. Hinzu kommen Kopfhörer, die nicht nur ein leichtes Rauschen simulieren, sondern das Hören an sich erschweren, und eine spezielle Brille, die für eine gewisse Sehunschärfe, ein verändertes Farbsehen und ein verengtes Blickfeld sorgt.
Ich fühle mich fast wie eine Art Robocop – aber eben nur fast. Denn statt actionreicher und tempogeladener Handlungen vollzieht sich bei mir alles wie in Zeitlupe. Meine Füße bekomme ich treppauf nur beschwerlich angehoben, mein Gang ist unsicher. Ich bin froh, dass ich mich am Geländer festhalten kann und hoffe so, sturzfrei zu bleiben. Oben im zweiten Stock angekommen, schnaufe ich ziemlich. Ein Glas Wasser wäre schön. Doch so locker wie gewohnt funktioniert auch das nicht mehr. Die Manschetten versteifen meine Gelenke, die Handschuhe schränken Tastsinn und Greiffunktion ein. Die Flasche Wasser aufzudrehen und ohne etwas zu verplempern in ein Glas zu schütten, gelingt mir nur sehr behäbig.
Wie Robocop in Zeitlupe
Je länger ich in dem Simulationsanzug stecke, desto müder werde ich. Bewegungen, die sonst ohne zu überlegen funktionieren – wie das Bücken, um meine Schuhe anzuziehen, oder simples Treppensteigen – werden zum Kraftakt und ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich jede bevorstehende Handlung hinterfrage: „Muss das jetzt wirklich sein oder kann ich das nicht auf später verschieben?“ Letztlich resultiert daraus, dass ich recht zufrieden mit der Welt bin, wenn ich einfach nur irgendwo sitzen und den Blick in die Landschaft genießen kann. Für mich war es nur ein kurzer Augenblick in diesem Alterssimulationsanzug. Wie muss es sich wohl anfühlen, wenn jede Minute, jede Stunde, jeder Tag so beschwerlich ist? Meine Eltern sind jetzt ungefähr in jenem Alter, das ich simuliert habe. Oft sagen sie, es sei alles so anstrengend geworden. Nicht selten entgegne ich dann: „Stellt euch nicht so an, so alt seid ihr nun auch noch nicht.“ Jetzt beschleicht mich ein schlechtes Gewissen. Meine Eltern mögen zwar für ihr Alter noch fit sein, aber vieles ist trotzdem nicht mehr „mal eben schnell“ erledigt.
„Der Senior Suit ist ein hochwertiger Simulationsanzug, der altersbedingte Einschränkungen weder verharmlost noch sie maßlos übertreibt“, beschreibt Schoeffel seinen Overall. Der studierte Psychologe, Informatiker und Anthropologe aus Schweitenkirchen bei München hat den Anzug selbst entwickelt. Teile des Anzugs, wie die Versteifungselemente, hat er sich patentieren lassen. „Die Grundidee des Simulationsanzugs scheint leicht zu realisieren. Wichtig ist aber, den Anzug so zu gestalten, dass die einzelnen Elemente den jeweiligen Proportionen eines Körpers und der Größe angepasst werden können. Auch Gewichte können flexibel noch ergänzt werden – je nachdem, ob die Person, die den Senior Suit testet, eher von zierlicher oder stämmiger Statur ist. Das schaffen nur wenige Anbieter auf dem Markt – für ein realitätsnahes, am wirklichen Alterungsprozess orientiertes Simulationstraining ist das aber essenziell“, weiß Schoeffel.
Der Entwickler hat bis zu seiner Selbstständigkeit im Jahr 2002 in der Design- und Ergonomieabteilung von Siemens gearbeitet. Dort entwickelte er Leitfäden, wie seniorengerechte Produkte beschaffen sein müssen. Später hat er diese Leitfäden in seiner eigenen Firma weiterentwickelt, internationale Alterungskurven analysiert und begonnen, eng mit Universitäten wie dem Institut für Anthropologie der Universität Kiel zusammenzuarbeiten. Mittlerweile fragen seine Anzüge Arbeitswissenschaftler, Produktdesigner, Ingenieure, Marktforscher, Ausbilder und Personalverantwortliche weltweit nach.
Empathie gewinnen
Schoeffels Frau Susanne ist gelernte Krankenschwester und hat bis zu ihrem Ruhestand die ambulante Pflege eines Seniorenheims in Ingolstadt geleitet. Sie weiß, wie wertvoll die Erfahrung in dem Senior Suit auch für Pflegeschüler und Pflegemitarbeitende sein kann. „Doch noch setzen nicht sehr viele Pflegeschulen auf solche Simulationstrainings“, sagt sie. Dabei hält sie es für sinnvoll, wenn das Training einen festen Platz im Lehrplan und Einarbeitungskonzept bekäme. „Was Basisarbeit, Verständnis und Empathie anbelangt, können Simulationstrainings einiges bewirken. In der Pflege entwickelt sich das Bewusstsein für die Sinnhaftigkeit solcher Trainings allerdings jetzt erst so langsam“, ergänzt ihr Mann.
Das Seniorenheim Pflegestern im oberbayerischen Oberding gehört mit zu den Pflegeeinrichtungen, die den Simulationsanzug mit ihren Auszubildenden im vergangenen Jahr getestet hat. „Es war sehr interessant zu beobachten, wie der Perspektivwechsel die Wahrnehmung der Pflegeschüler verändert hat“, beschreibt Einrichtungsleiterin Silke Stauber. Die Jugendlichen hätten sich anfangs übereinander lustig gemacht, weil sie sich so langsam oder unbeholfen fortbewegten. Auch Lagerungsversuche im Bett, den Notruf von dort aus zu tätigen, aufzustehen oder Medikamente auszupacken, muteten zwar für die Mitschüler amüsant an, aber: „Im Nachhinein hatten alle Schüler mehr Verständnis für die Beeinträchtigungen der Bewohnerinnen und Bewohner und waren geduldiger mit ihnen. Sie haben gemerkt, wie erniedrigend es mitunter sein kann, wenn einst routinierte Tätigkeiten nicht mehr ohne Hilfe erledigt werden können“, berichtet Stauber. Gerade, wenn es um Empathie und Verständnis für eine unbekannte Situation geht, kann der Anzug hilfreich sein. Das gilt nicht nur für professionelle Pflegekräfte, sondern eben auch für pflegende Angehörige. Gerit Schwebs, Altenpflegerin seit 23 Jahren, macht im Pflegestern die Probe aufs Exempel und steigt in den Anzug.
Hilfe für den Alltag
„Unglaublich, wie die Gewichte in den Rücken ziehen“, beschreibt sie. Nach ein paar Schritten am Rollator stellt sie fest: „Achte ich nicht genau darauf, meine Füße zu heben, schlurfe ich über den Boden. Die Schritte sind kürzer als sonst. Ich fühle mich, als hätte ich überall Arthrose. Sehr mühselig alles“, sagt Schwebs weiter und redet dabei automatisch lauter. Die Frage einer Kollegin, ob sie einmal versuchen wolle, in das Bett zu kommen und wieder aufzustehen, hört sie nicht. Nach wenigen Minuten ist die erfahrene Pflegerin froh, wieder in ihrem realen Alter angekommen und von dem Altersanzug erlöst zu sein.
Schwebs Fazit: Sobald jemand in diesem Anzug stecke, komme die Person nicht umhin, für die Einschränkungen des Alters sensibilisiert zu werden – sei es als Pflegekraft oder als pflegender Angehöriger. Und genau diese Sensibilisierung ist wichtig für das Leben mit pflegebedürftigen Personen. Schließlich kehrt im stressigen Alltag schnell Routine ein, man ärgert sich vielleicht, kann vieles nicht nachvollziehen oder ist überfordert. Mithilfe der gewonnenen Erkenntnisse im Altersanzug können manche Situationen so leichter nachvollziehbar werden.