Erfülltes Leben trotz Multipler Sklerose

Erfülltes Leben trotz Multipler Sklerose

Rund 15.000 Menschen in Deutschland erhalten pro Jahr die Diagnose Multiple Sklerose (MS). Die Krankheit kann Betroffene mehr oder weniger stark einschränken. Doch neue Behandlungsmöglichkeiten und ein angepasster Lebensstil ermöglichen vielen trotzdem eine hohe Lebensqualität. Welche neuen Therapien es gibt und wie Sie als Betroffener oder Angehöriger den Krankheitsverlauf beeinflussen können.

Eine Frau sitzt mit Laptop am Strand. Sie reist trotz Multipler Sklerose.
GettyImages/Westend61
Inhaltsverzeichnis
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    Mit Mut und Stärke leben lernen – unter dieses Motto hat die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) den diesjährigen Welt-MS-Tag am 30. Mai gestellt. Die Botschaft dahinter: Auch mit der Erkrankung geht das Leben weiter und viele Zukunftspläne lassen sich trotzdem realisieren. 

    „Das typische Bild vom MS-Patienten, der früher oder später zwingend im Rollstuhl landet, trifft heute schon nicht mehr zu“, erklärt MS-Expertin Prof. Dr. med. Judith Haas. Als Vorsitzende des DMSG-Bundesverbandes und langjährige Leiterin des MS-Zentrums des Jüdischen Krankenhauses in Berlin hat sie zahlreiche Patienten mit der Autoimmunerkrankung begleitet. „Natürlich kann sich die Multiple Sklerose auch irgendwann auf die Gehfähigkeit auswirken. Doch wir sehen heute viele Patienten in fortgeschrittenem Alter, die sich entweder frei oder mit einer Gehhilfe fortbewegen können.“  

    Entscheidend dazu beitragen könne sowohl eine frühe medikamentöse Behandlung als auch ein angepasster Lebensstil. „Wir raten MS-Patienten zu viel Bewegung, soweit sie sich damit wohlfühlen“, sagt Judith Haas. Alkohol, Nikotin und zu viel Kochsalz sollten Sie als Betroffener dagegen möglichst vermeiden. „Patienten müssen nach der Diagnose jedoch keinesfalls ihr Leben komplett umstellen. Beruf, Familienleben, Hobbys und Reisen können genauso weiterlaufen wie zuvor“, beruhigt die MS-Expertin. Sollten Sie ein an MS erkranktes Familienmitglied haben, sollten Sie ihn oder sie bei einem gesunden Lebensstil unterstützen, aber nicht zu Maßnahmen drängen, die er oder sie selbst nicht möchte. „Angehörige sollten nicht mehr Angst vor der Krankheit haben als die Patienten“, meint Judith Haas.  

    Fabelhaft leben mit MS 

    „Und jetzt?“ Diese Frage stellte sich auch Samira Mousa nach ihrer MS-Diagnose mit 23 Jahren. „Ich wusste mit der Krankheit erstmal gar nichts anzufangen. Man drückte mir ein paar Broschüren in die Hand und entließ mich ansonsten ohne Informationen darüber, was das nun für mein Leben bedeutete“, erinnert sie sich.  

    Heute, rund zehn Jahre später, ist Samira selbst zur Spezialistin für die Erkrankung geworden und arbeitet unter anderem als Beraterin für MS-Erkrankte und Pharmaunternehmen. Besonders vermisste sie damals Informationen, was sie selbst tun könnte, um ihren Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen. „Ich habe zum Beispiel erst nach zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört“, erzählt die gebürtige Berlinerin. Im Gegensatz zu heute hätte es damals auch nur wenig Informationen zu chronischen Erkrankungen in den sozialen Medien gegeben. Samira betreibt deshalb einen Blog sowie einen Instagram-Account namens „chronischfabelhaft“. Dort erzählt sie praxisnah aus dem Leben mit Multipler Sklerose. Ihr wichtigster Tipp: „Sorge gut für dich selbst.“ Sie habe über die Jahre gelernt, dass Selbstwirksamkeit ein entscheidender Bestandteil in der Wahrnehmung und Beurteilung der eigenen Erkrankung ist.

    Samira Mousa
    Samira Mousa

    „Ich glaube daran, dass es bei jedem eine Art Sollbruchstelle im Körper gibt, die immer dann besonders in Erscheinung tritt, wenn wir unsere eigenen psychischen Grenzen überschreiten. Der eine hat dann immer Rückenschmerzen, die nächste häufiger Migräne und ich eben verstärkte MS-Symptome.“ Deshalb versuche sie in solchen Zeiten herauszufinden, was sie jetzt wirklich braucht. „Ich sehe die Symptome immer als Warnsignale meines Körpers.“  

    Da sie selbstständig arbeitet und als digitale Nomadin herumreist, kann sie sich dann relativ unkompliziert benötigte Auszeiten nehmen. Sie sagt: „Ich weiß nicht, ob ich ohne meine Diagnose da wäre, wo ich heute bin. Sie hat meinen Lebensstil und meine Pläne immens beeinflusst – und das nicht zum Schlechten.“ Samira ist sich jedoch im Klaren, dass sie ihren derzeitigen stabilen Gesundheitszustand auch einem Quäntchen Glück verdankt. „Zum einen sind nicht alle Menschen mit einer starken psychischen Widerstandskraft gesegnet. Zum anderen ist mir natürlich bewusst, dass es zahlreiche Betroffene gibt, deren Krankheitsverlauf einfach ungünstiger ist als mein eigener.“  

    Neue Therapien bringen Hoffnung 

    Doch auch für schwerer betroffene Patienten gibt es heute Behandlungsoptionen. „Die medikamentöse Therapie der Multiplen Sklerose hat sich in den letzten zehn Jahren entscheidend geändert“, erklärt Judith Haas. Auch, wenn momentan noch die Möglichkeit fehlt, das angegriffene Nervensystem wieder zu reparieren – die derzeitigen Medikamente können nicht nur Schübe verhindern, sondern auch das Fortschreiten der MS in vielen Fällen stark verlangsamen.  

    B-Zellen-Therapie

    B-Zellen produzieren Antikörper, die normalerweise dazu dienen, schädliche Erreger wie Viren oder Bakterien abzuwehren. Bei der Multiplen Sklerose erzeugen sie jedoch Antikörper, die sich gegen den eigenen Körper wenden, sogenannte Autoantikörper. Sie gelangen über die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn und Rückenmark. Dadurch wird die schützende Schicht der Nervenfasern, das sogenannte Myelin abgebaut. Die Folge sind die typischen neurologischen Symptome der MS. 

    Bei der B-Zell-Therapie erhalten Patienten Medikamente, die darauf abzielen, die Aktivität oder die Anzahl der B-Zellen zu reduzieren. Dabei handelt es sich um monoklonale (gentechnisch hergestellte) Antikörper, die per Infusion oder Selbstinjektion verabreicht werden. „In den letzten Jahren hat sich vor allem diese Therapie gegen MS etabliert“, berichtet Judith Haas. Am wirksamsten sei sie bei der schubweisen MS, wenn diese noch nicht lange besteht. „Aber auch, wenn die Erkrankung schon weiter fortgeschritten ist und schon neurologische Defizite bestehen, kann die Therapie weitere Verschlechterungen aufhalten“, erklärt Judith Haas.  

    CAR-T-Zellen-Therapie

    Bei der Tumorbehandlung hat sich die CAR-T-Zellen-Therapie bereits bewährt. Versuchsweise haben Wissenschaftler damit auch bei Autoimmunerkrankungen wie der Multiplen Sklerose einen entscheidenden Neustart des Immunsystems bewirken können. Die MS-Expertin dazu: „Natürlich besteht hier bisher nur Einzelfallerfahrungen. Aber es könnte dadurch neue Hoffnung für die MS-Patienten geben, bei denen die herkömmlichen Therapien bisher nicht ausreichend wirksam sind.  

    BTK-Hemmer

    BTK-Hemmer (Bruton-Tyrosinkinase-Hemmer) sind eine Klasse von Medikamenten, die ursprünglich zur Behandlung von hämatologischen Erkrankungen wie bestimmten Arten von Leukämie und Lymphomen entwickelt wurden. Dazu Judith Haas: „Hierzu laufen mehrere fortgeschrittene Studien, die interessante Auswirkungen auf den Verlauf der MS zeigen. Eine hohe Wirksamkeit scheint sehr wahrscheinlich.“ 

    Bruton-Tyrosinkinase (BTK) ist ein Enzym, das eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung in bestimmten Zellen des Immunsystems spielt, insbesondere bei B-Zellen und myeloiden Zellen. Durch die Hemmung von BTK kann die Aktivität dieser Zellen reguliert werden, was zu einer Verringerung der Entzündungsreaktionen führen kann. 

    Blick in die Zukunft 

    Judith Haas kann sich vorstellen, dass in den nächsten Jahren weitere neue Behandlungsmöglichkeiten für MS-Patienten auf den Markt kommen, an denen heute schon geforscht wird.  

    Epstein-Barr-Virus

    „Einige Studien zeigen deutliche Zusammenhänge zwischen einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus und einer später auftretenden Multiplen Sklerose“, erklärt Prof. Dr. Haas. Würde eine Impfung gegen das Virus gefunden, könnte es also sein, dass man eine Multiple Sklerose in vielen Fällen ganz verhindern könnte.  

    Darmmikrobiom

    Seit einigen Jahren vermuten Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen den Mikroorganismen im Darm und verschiedenen Erkrankungen, darunter auch die Multiple Sklerose. Erste Studien zeigen, dass das Darmmikrobiom von MS-Patienten oft eine veränderte Zusammensetzung im Vergleich zu gesunden Menschen aufweist. Auch die Schwere des Krankheitsverlaufs könnte mitunter davon abhängen. Es bleibt spannend, welche Behandlungsmöglichkeiten sich aus der weiteren Forschung ergeben. 

     

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