Ulrike schließt die Wohnungstür ihrer Mutter auf. Auch nach mehrmaligem Rufen antwortet niemand, die Wohnung ist leer. Das ist problematisch, denn Ulrikes Mutter hat Demenz. Das Weglaufen, auch die Hin- beziehungsweise Weglauftendenz genannt, ist ein Thema, das insbesondere pflegenden Angehörigen große Sorgen bereitet. Das ist nur verständlich. Doch es gibt einiges, dass Sie tun können, um Warnsignale zu erkennen und ungeplanten Ausflügen entgegenzuwirken. Wir geben Ihnen Tipps, mit denen Sie vorbeugen, und erklären Ihnen außerdem, wie Sie Ihren Angehörigen oder Ihre Angehörige im Ernstfall wiederfinden können.
Wieso Menschen mit Demenz häufig weglaufen
Etwa jede fünfte Person mit Demenz zeigt eine Weglauftendenz im Alltag. Betroffene verlassen beispielsweise das Pflegeheim oder das häusliche Umfeld, informieren aber niemanden über ihre geplanten Ausflüge. Insbesondere für pflegende Angehörige beginnt nach dem Feststellen der Abwesenheit eine Zitterpartie: Wo befindet sich mein Familienmitglied gerade, geht es ihm gut? Ist mein Angehöriger oder meine Angehörige rechtzeitig wieder zur Medikamenteneinnahme oder bevor es dunkel wird, zu Hause?
Nicht selten wird Menschen mit Demenz zudem grobe Rücksichtslosigkeit, Undankbarkeit oder sogar Böswilligkeit unterstellt. Dabei trifft in der Regel nichts davon zu. Betroffene haben vielmehr ein für sie wichtiges Ziel vor Augen. Sie laufen also streng genommen meist nicht vor etwas weg, sondern zu etwas hin – deshalb bezeichnen Experten die Weglauftendenz immer öfter als Hinlauftendenz. Vielleicht möchten sie sich zu einer Verabredung mit Freunden oder Bekannten treffen oder sind der Überzeugung, einkaufen gehen oder zur Arbeit zu müssen.
Vom Hin- oder Weglaufen können Sie übrigens das sogenannte Wandern unterscheiden, bei dem das Verschwinden eher eine ungeplante Folge des nicht zielgerichteten Laufzwangs oder Bewegungsdrangs ist. Die Konsequenz kann aber natürlich dieselbe sein, wenn Ihr Angehöriger oder Ihre Angehörige unbemerkt verschwunden ist.
Weglaufen verhindern: Freiheitsentziehende Maßnahmen sind keine Lösung
Hand aufs Herz: Haben auch Sie schon einmal mit dem Gedanken gespielt, die Haustür abzuschließen oder den Rollator zur Seite zu stellen, damit Ihr Familienmitglied nicht unbeaufsichtigt die Wohnumgebung verlässt? Das sind nachvollziehbare Gedanken, für die Sie sich nicht zu schämen brauchen, schließlich sind diese nur Ausdruck Ihrer Besorgnis. Freiheitsentziehende Maßnahmen, also Methoden, die die Bewegungsfreiheit Ihres Angehörigen oder Ihrer Angehörigen gegen seinen Willen einschränken, sind jedoch keine Lösung.
Zum einen hat Ihr Familienmitglied das Recht, sich frei zu bewegen. Einschränkende Maßnahmen können Aggressionen und Verwirrungen auslösen, die den Pflegealltag zusätzlich belasten. Zum anderen helfen die Ausflüge Ihren Angehörigen, seine oder ihre Bedürfnisse, beispielsweise den Wunsch nach Bewegung oder Einhaltung der vermeintlichen Verabredung, zu erfüllen – das bedeutet für Ihr Familienmitglied ein Stück Selbstständigkeit.
Auch wenn es gar nicht so einfach ist: An Ihnen liegt es nun, Ihrem oder Ihrer Angehörigen den benötigten Bewegungsspielraum, auch gegen Ihren Instinkt, zu ermöglichen, gleichzeitig aber für Sicherheit zu sorgen.
Hin -oder Weglaufen: Darum sollten Sie Tendenzen genau beobachten
Worüber machen Sie sich am meisten Sorgen, wenn Ihr Familienmitglied allein unterwegs ist? Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben Sie die Befürchtung, dass Ihr Angehöriger oder Ihre Angehörige die Orientierung verliert und nicht mehr nach Hause findet. Es gibt aber noch viele andere gute Gründe, warum Hin- beziehungsweise Weglauftendenzen genau beobachtet werden sollten.
Folgende Risiken gibt es, wenn Demenzkranke unkontrollierte Streifzüge unternehmen:
- Gefahr von Stürzen: Diese können insbesondere für Menschen mit Osteoporose komplikationsreich sein.
- Ständige Bewegung trotz bestehender Müdigkeit und Erschöpfung: Dadurch droht ein Gewichtsverlust oder eine Unterzuckerung.
- Unzureichende Versorgung mit Flüssigkeit: Hier besteht das Risiko der Dehydratation.
- Eigen- oder Fremdgefährdung im Straßenverkehr: Infolge der Orientierungslosigkeit kann Ihr Angehöriger zur Gefahr für sich selbst oder andere werden.
- Belästigung anderer Personen durch unangemessenes Verhalten: Vielleicht beschimpft Ihr Familienmitglied andere Menschen oder zeigt sich aggressiv.
- Gesundheitliche Gefährdungen durch verpasste Medikamenteneinnahmen: Hier könnte eine Gefahr dadurch entstehen, dass Ihr Angehöriger beispielsweise seine Herzmedikamente nicht rechtzeitig erhält.
Weglaufen verhindern: Was können Sie tun?
Um Tendenzen zum Hin- oder Weglaufen in den Griff zu bekommen, können Sie verschiedene Vorkehrungen treffen. Zunächst geht es darum, die Motive hinter den Unternehmungen zu ergründen. Mit den Erkenntnissen können Sie näher auf unerfüllte Bedürfnisse und Wünsche eingehen. Außerdem ist es möglich, mit verschiedenen Hilfsmitteln und einem guten sozialen Netz mehr Sicherheit im Pflegealltag zu erlangen.
Mit 3 Schritten auf die Weglauftendenzen bei Demenzkranken reagieren:
- Motive für das Wandern, Weglaufen bzw. Hinlaufen erkunden
- Wünsche und Bedürfnisse erfüllen
- Stabiles Netz aus Sicherheitsmaßnahmen schaffen
1. Motive für das Wandern, Hin- oder Weglaufen erkunden
Auf den ersten Blick scheinen Betroffene einfach verwirrt. Hinter den Tendenzen zum Hin- oder Weglaufen können aber viele Ursachen stecken, die häufig nicht offensichtlich sind.
Vielleicht war Ihr Angehöriger früher ein engagierter Sportler und braucht die regelmäßige Bewegung auch jetzt noch. Für viele Menschen ist körperliche Aktivität ein wichtiges Instrument, um Energie abzubauen. Personen mit Demenz sind zudem nicht selten auf der Suche nach Personen oder Gegenständen, die der Vergangenheit entstammen. Manchmal widmen sie sich auch einer früheren Rolle – sie möchten beispielsweise zu ihrer Arbeitsstelle oder ihrem Elternhaus zurückkehren.
Ihr Familienmitglied kann bei einer Demenz zunehmend die Fähigkeit zur örtlichen Orientierung verlieren. Das kann dazu führen, dass selbst bekannte Orte, wie das häusliche Umfeld, nicht mehr als solche erkannt werden. Womöglich begibt sich Ihr Familienmitglied dann auf die Suche nach dem „richtigen“ Zuhause. Eine Reizüberflutung, ausgelöst durch Radio oder Fernsehen, kann zu Beunruhigung und wahnhaften Vorstellungen führen – vielleicht verlässt Ihr Angehöriger dann aus Angst oder einem Verfolgungswahn heraus die Wohnumgebung.
Übrigens: Körperliche Empfindungen zu deuten, auf sie zu reagieren, ist für gesunde Menschen selbstverständlich. Bei Demenzkranken können sich Unwohlsein, Hunger, Schmerzen, Harndrang oder ein niedriger Blutdruck anders äußern, etwa auch ein Weglaufen auslösen.
Ihr Angehöriger neigt zum Wandern und Weglaufen? Dann bietet sich ein „Wanderprotokoll“ an. Notieren Sie darin, zu welcher Uhrzeit Ihr Familienmitglied eine Weglauftendenz zeigt, welche Orte dann bevorzugt werden und ob es eine bestimmte auslösende Situation gab. Ihre Notizen helfen Ihnen dabei, ein Muster zu erkennen und mehr über die Hintergründe zu erfahren.
2. Wünsche und Bedürfnisse erfüllen
Mit gezielten Maßnahmen können Sie Ihrem Angehörigen womöglich den Grund für sein Weglaufen nehmen und die Anzahl der Ausflüge reduzieren.
- Bewegungsdrang: Bewegen Sie sich gemeinsam mit Ihrem Familienmitglied – planen Sie beispielsweise täglich einen Spaziergang ein oder besuchen Sie zusammen Bewegungskurse. Auch Langeweile kann ein Grund für einen Bewegungsdrang sein. Beziehen Sie Ihren Angehörigen in alle Pflegetätigkeiten mit ein, das ist auch im Sinne der sogenannten aktivierenden Pflege. Außerdem können Sie den Entlastungsbetrag in Höhe von 131 Euro monatlich für Betreuungsangebote nutzen.
- Örtliche Verwirrtheit/auf der Suche: Um die Fähigkeit der örtlichen Orientierung zu unterstützen, nehmen Sie möglichst keine Veränderungen im gewohnten Umfeld vor – verrücken Sie keine Gegenstände oder ordnen das Geschirr um. An fremden Orten wie einem Einkaufszentrum begleiten Sie Ihren Angehörigen bestenfalls. Befindet sich Ihr Angehöriger auf der Suche, beispielsweise nach einem Gegenstand, widersprechen Sie ihm nicht, sondern bieten Ihre Unterstützung an. Lenken Sie Ihr Familienmitglied außerdem mit Aktivitäten wie dem gemeinsamen Kochen von der Suche ab.
- Beunruhigung: Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Familienmitglied gestresst, verängstigt oder beunruhigt ist, leiten Sie Ihren Angehörigen aus der Situation heraus – vermindern Sie beispielsweise Umgebungsreize, indem Sie den Fernseher ausschalten. Sprechen Sie auch mit dem behandelnden Arzt, ob Medikamente hilfreich sind.
- Körperliche Bedürfnisse: Prüfen Sie, ob womöglich Schmerzen bestehen. Anzeichen sind ein verzerrter Gesichtsausdruck, ein Stöhnen oder Jammern. Gibt es sonstige Veränderungen im Verhalten Ihres Angehörigen – schläft er beispielsweise schlechter, hat keinen geregelten Stuhlgang mehr oder weniger Appetit? Veränderungen im Gesundheitszustand besprechen Sie am besten mit dem behandelnden Arzt. Außerdem können Sie Vorschläge machen: „Sollen wir zusammen frühstücken? Musst du zur Toilette?“
3. Stabiles Netz aus Sicherheitsmaßnahmen schaffen
Sicherheitsmaßnahmen beziehen sich sowohl auf die Unterstützung von außen als auch auf sinnvolle Hilfsmittel. Im ersten Schritt ist es empfehlenswert, Personen über die Lage zu informieren, die womöglich in Kontakt mit Ihrem Angehörigen kommen. Das kann beispielsweise der Kioskbesitzer um die Ecke sein, der Nachbarschaftshelfer oder die Kassiererin im Supermarkt. Hinterlegen Sie dort Ihre Telefonnummer und bitten Sie um einen Anruf, falls Ihr Familienmitglied einen verwirrten Eindruck macht.
Vor Ort können Sie Ihre Angehörige dann beispielsweise mit den Worten: „Ach, schön, dich hier zu treffen, magst du mich mit auf eine Tasse Tee zu dir nehmen“ begrüßen. Informieren Sie bestenfalls auch die Nachbarn.
Bei den Hilfsmitteln können Sie, bei Einverständnis Ihres Angehörigen, auf eine spezielle Uhr mit GPS-Ortung zurückgreifen – diese zeigt den momentanen Aufenthaltsort an. Statten Sie zudem die Handtasche oder die Manteltasche mit Personalien aus, eine Visitenkarte ist eine unkomplizierte Lösung.

Checkliste: Weglaufen verhindern
Wie Sie ein ungewolltes Weglaufen oder Wandern Ihres Angehörigen verhindern - und was Sie tun können, wenn es doch passiert.
Mein Angehöriger mit Demenz ist weggelaufen, was nun?
Trotz großer Bemühungen gelingt es nicht immer, dass Weglaufen von an Demenz erkrankten Menschen zu verhindern. Ist Ihr Angehöriger verschwunden, geraten Sie trotz der Besorgnis nicht in Panik. Suchen Sie Orte auf, an denen sich Ihr Familienmitglied häufig aufhält, wie den Einkaufsladen, den Park oder das Lieblingscafé. Sprechen Sie mit Bekannten, Nachbarn, der Nachbarschaftshilfe oder anderen Personen, die Ihren Angehörigen kennen – vielleicht haben sie ihn gesehen.
Sorgen Sie dafür, dass eine Person die häusliche Umgebung im Blick hat, falls Ihr Familienmitglied zurückkehrt. Begeben Sie sich auf die Suche – nehmen Sie eine Personenbeschreibung, ein Foto und etwas mit, was Ihren Angehörigen ablenkt, das kann beispielsweise ein Stück Schokolade sein. Treffen Sie aufeinander, zeigen Sie keinen Ärger, sondern Freude. Falls der Demenzkranke noch immer einen Plan verfolgt, bringen Sie ihn nicht davon ab, sondern leiten ihn auf Umwegen wieder nach Hause.
Bleibt die Suche erfolglos oder besteht eine akute Gefährdung, beispielsweise durch dringend benötigte Medikamente, informieren Sie die Notrufnummer der Polizei (110).
Personen mit Demenz zeigen häufig Weglauftendenzen, das hat in der Regel nichts mit der Pflegequalität oder einer Unzufriedenheit zu tun. Mit der Überprüfung der Grundbedürfnisse und Betreuungsangeboten können unerwünschte Ausflüge begrenzt werden, freiheitsentziehende Maßnahmen sind aber keine Lösung. Stattdessen können Sie für mehr Sicherheit auf Hilfsmittel wie eine GPS-Uhr setzen. Bitte denken Sie daran: Nicht nur Menschen mit kognitiven Einschränkungen, auch Personen mit einer Aphasie, einer Sprachstörung, können sich verlaufen und sich dann nur schwer mitteilen. Begegnen Sie einer solchen Person, sollten Sie eine Gefährdung ausschließen und Personen um Hilfe bitten.