10 Mythen der Pflegeversicherung

10 Mythen der Pflegeversicherung

Die Pflegeversicherung ist ein komplexes System. Sie haben sicher auch schon viel gelesen und gehört. Doch was davon stimmt eigentlich und was ist falsch? Dr. Jörg Zimmermann deckt in seiner Kolumne “Ihr gutes Pflegerecht” heute 10 Mythen der Pflegeversicherung auf.

Über die Pflegeversicherung existieren viele Mythen. Hier abgebildet ein Geldschein und Würfel, die das Wort "Pflege" ergeben.
GettyImages/bierwirm

Nach vielen tausend Beratungen von Betroffenen weiß ich: Es gibt viele Irrtümer und Missverständnisse zur Pflegeversicherung, die sich beständig halten. Hier sind meine persönlichen Top 10:

1. Schwere Erkrankung = höherer Pflegegrad

Nein, es gibt keine direkte Abhängigkeit zwischen der Schwere einer ärztlich festgestellten Diagnose und der Höhe des Pflegegrades. Eine Person mit einer Krebsdiagnose, die völlig selbständig ihr Leben bestreitet und keine personelle Hilfe benötigt, ist im Sinne des Gesetzes nicht pflegebedürftig.

Wenn die Auswirkungen einer schweren Erkrankung allerdings dazu führen, dass die betroffene Person nicht mehr ohne personelle Hilfe sein kann, entsteht ein Anspruch gegenüber der Pflegeversicherung. Dieser Anspruch muss dann individuell geprüft werden.

2. Ein neuer Antrag auf Pflegegrad ist erst nach 6 Monaten möglich

Ein Mythos, der sich beständig hält ‒ aber falsch ist. Die Pflegesituation kann sich seit dem letzten Bescheid so schnell geändert haben, dass schon kurz danach ein neuer Antrag gerechtfertigt ist. So bestimmt es das Gesetz.

Entscheidend ist also keine starre Frist, sondern die tatsächliche, aktuelle Pflegebedürftigkeit. Ich kenne Fälle, bei denen der erteilte Pflegegrad schon wenige Tage nach dem Bescheid nicht mehr korrekt war.

Ihr gutes Pflegerecht

Dr. med. Jörg A. Zimmermann schreibt über die Gesetzliche Pflegeversicherung ‒ eine höchst subjektive ärztliche Zweitmeinung zu Diagnosen und Therapieversuchen in einem manchmal sehr kranken System. Er ist Arzt mit mehrjähriger klinischer Erfahrung. Mit seiner Firma Familiara hilft er Betroffenen, sich gegen ungerechtfertigte Entscheidungen der Pflegekassen zur Wehr zu setzen. Seit 2017 haben er und sein Team über 40.000 Fälle analysiert und mehrere tausend Widerspruchsverfahren in allen Phasen begleitet.

3. Die Frist für einen Pflegegrad-Widerspruch beträgt 4 Wochen

Jetzt muss ich sehr korrekt sein: Genau genommen beträgt sie 1 Monat ab Kenntnis des Bescheides. Ein feiner Unterschied, der bei drohendem Fristversäumnis aber wichtig ist. Deswegen sollten Sie genau dokumentieren, wann Sie den Bescheid im Briefkasten hatten.

Wenn die Pflegekasse im Bescheid keine Frist genannt hat, können Sie auch noch innerhalb eines Jahres Widerspruch einlegen. Bei Privatversicherten gibt es in der Regel keine starren Fristen.

4. Bei Widerspruch erfolgt immer eine erneute Begutachtung

Leider nein. Die Pflegekasse kann nämlich festlegen, ob und wie sie erneut begutachten will. Sie kann über den Widerspruch auch nach Aktenlage entscheiden ‒ sozusagen am “grünen Tisch”. In der Mehrzahl der Fälle lehnt sie den Widerspruch dann ab.

Deswegen gilt: Je besser die Widerspruchsbegründung, desto größer ist Ihre Chance auf eine erneute persönliche Begutachtung. Die dann im Idealfall von einem Pflegeexperten begleitet werden sollte, damit nicht die gleichen Fehler wie bei der ersten Begutachtung passieren.

5. Ein neuer Antrag hat bessere Chancen als ein Widerspruch

Das wird gerne von den Pflegekassen geraten, ist aber falsch. Antrag und Widerspruch sind zwei verschiedene Dinge: Mit einem Antrag beantragen Sie Pflegeleistungen für die Zukunft; ein Widerspruch bezieht sich auf Ihren Leistungsanspruch in der Vergangenheit. Theoretisch ist sogar beides gleichzeitig möglich ‒ in vielen Fällen aber nicht ratsam.

Meine dringende Empfehlung: Wenn Ihr Widerspruch berechtigt ist, sollten Sie diesen Anspruch sofort durchsetzen. Eine Sicherheit, zu einem späteren Zeitpunkt mit einem Neuantrag das gewünschte Ziel zu erreichen, gibt es nicht. Und selbst wenn der Antrag erfolgreich war, haben Sie unnötig Zeit und Geld verloren.

6. Die Nachzahlung bei Höherstufung wird erst ab Antrag gewährt

In den Richtlinien für die Gutachter des Medizinischen Dienstes heißt es ganz klar: “Weiterhin ist zu dokumentieren, seit wann Pflegebedürftigkeit in der aktuell festgestellten Ausprägung vorliegt. Ein bloßes Abstellen auf das Datum der Antragstellung beziehungsweise Beginn des Antragsmonats ist nicht zulässig.”

Das bedeutet: Ihre Nachzahlung bei einer Höherstufung muss danach berechnet werden, ab wann die Voraussetzungen für den höheren Pflegegrad tatsächlich vorgelegen haben. Seien Sie also immer misstrauisch, wenn Sie die Nachzahlung erst ab Antragsdatum erhalten.

7. Den 4.180 Euro-Zuschuss bekommt man nur einmal

Falsch. Einen Zuschuss für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen (z. B. Badumbau, Treppenlift etc.) können Sie auch ein zweites oder sogar drittes Mal erhalten. Voraussetzung ist, dass sich die Pflegesituation geändert hat und diese Veränderung eine weitere Maßnahme sinnvoll oder notwendig macht.

Die beste Begründung für eine geänderte Pflegesituation ist ein höherer Pflegegrad. Wenn die beantragte Maßnahme dann dazu dient, die Selbstständigkeit der betroffenen Person zu unterstützen oder die Pflege zu erleichtern, ist die Chance auf Bewilligung groß.

8. Verhinderungspflege wird nicht rückwirkend bezahlt

Hier wird leider viel Geld verschenkt: Nach § 45 SGB I kann das Geld der Verhinderungspflege bis zu 4 Jahre nach dem Jahr der Inanspruchnahme rückwirkend beantragt werden; Privatversicherte haben 3 Jahre Zeit. Sie müssen auch keinen vorherigen Antrag stellen, bevor Sie Leistungen in Anspruch nehmen.

Denken Sie also einmal nach, ob und wann Sie in den letzten vier Jahren Ersatzpersonen für die Pflege in Anspruch nehmen mussten ‒ egal, ob professionelle Hilfe oder Familienangehörige. Wenn Sie deren Einsatz dokumentieren können, haben Sie eine gute Chance auf rückwirkende Erstattung der Kosten.

9. Die 131 Euro Entlastungsbetrag verfallen jeden Monat

Nein, das Gegenteil ist der Fall: Nicht in Anspruch genommene 131 Euro werden jeden Monat angespart. Das sind 1.572 Euro pro Jahr, die Sie z. B. für Hilfen im Haushalt einsetzen können.

Und wenn Sie am Ende eines Jahres noch keine Leistungen genutzt haben, können Sie den gesamten Betrag auch noch bis zum 30. Juni des nächsten Jahres nutzen.

10. Die Pflegeversicherung ist eine Teilkaskoversicherung

Das stimmt so nicht. Eine Teilkaskoversicherung bezahlt ‒ nach Abzug der Eigenbeteiligung ‒ den vollen Schaden. Der Höchstbetrag ist in den Versicherungsbedingungen festgelegt, der Schadensbetrag liegt aber in der Regel darunter.

Genau umgekehrt ist es bei der Pflegeversicherung: Sie zahlt Ihnen nur einen Sockelbetrag, der von der Höhe des Pflegegrades abhängig ist. Alle weiteren Kosten der Pflege müssen Sie selbst tragen. Deswegen ist es so wichtig, dass Ihr Pflegegrad möglichst hoch ist.