Wenn Angehörige zu Hause sterben – ein Erfahrungsbericht

Wenn Angehörige zu Hause sterben – ein Erfahrungsbericht

Wo in unserer Gesellschaft begegnet man im Alltag noch dem Tod? Annett Kleischmantat (55) pflegte ihre Mutter viele Jahre und hat sich bewusst dazu entschieden, ihre Mutter zu Hause sterben zu lassen. Dann hat sie sie gewaschen und angezogen. So verbrachte sie noch einige wichtige Stunden mit der Verstorbenen. Im Rückblick weiß sie, dass ihr diese Erlebnisse in ihrer Trauer sehr geholfen haben. So möchte Sie anderen pflegenden Angehörigen mit ihrem Beitrag einen Teil der Last nehmen.
Zu Hause sterben, Hand eines Angehörigen halten
© iStock.com | Barcin

Sterben und Tod sind aus dem alltäglichen Leben verschwunden

Haben Sie jemals ein Leichenhemd oder gar einen toten Menschen gesehen? Wir haben heute den Tod weitestgehend ausgelagert, in Krankenhäuser, Pflegeheime und Hospize. Die letzten Handlungen an einem Verstorbenen haben wir an Bestattungsinstitute delegiert. Die wissen, wie das geht. Wir sind Kunde und die werden uns schon sagen, was zu tun ist. Das Sterben und der Tod sind aus unserem Alltag verschwunden.

Also, „beste Voraussetzungen“ für mich, die ich mir vorgenommen hatte, Mutter zu Hause sterben zu lassen. Eine Mischung aus Furcht und Entschlossenheit begleitete mich. 2009 habe ich meinen Beruf an den Nagel gehängt, um mich ganz und gar meiner damals 82-jährigen Mutter zu widmen. Ich hatte ihr eine kleine Wohnung in meinem Mietshaus besorgt, und so lebten wir fünf Jahre lang unter einem Dach. Ich kümmerte mich immer genau um das, was sie gerade nicht mehr konnte.

“Der Tod war zu uns gekommen”

Dann kam dieses Wochenende, als meine mittlerweile 87-jährige Mutter so schwach war, dass sie nicht aus dem Bett kam und sehr viel schlief. Ich schwankte zwischen Hoffen und Bangen. Auch am Montag kam Mutter nur zu den Mahlzeiten aus dem Bett. Um 14.30 Uhr war ich noch einmal bei ihr und fragte sie nach ihrem Befinden. Ihr gehe es gut, sagte sie. So verließ ich ihre Wohnung, um einkaufen zu gehen. Um 15.30 Uhr war ich zurück und wollte im Fahrstuhl auf die 4. Etage drücken, um meinen Einkauf in meine Wohnung zu bringen. Mein Finger entschied sich aber für die 3. Etage. Da wohnte Mutter. Ich traf sie munter an und freute mich sehr darüber.

Da meine Mutter hungrig war, setzte ich sie in den Rollstuhl an den Kaffeetisch, brachte ihr Schokoladenkuchen und kochte ihr einen Tee dazu. Sie stach mit ihrer Kuchengabel hastig ein Stückchen Kuchen nach dem anderen ab und trank von ihrem Tee. Da saßen wir zwei nun wie so oft beieinander an der Kaffeetafel, und alles war für einen letzten schönen Moment wie immer. Als noch ein kleiner Schokokuchenwürfel auf ihrem Teller war, legte sie die Kuchengabel hin und senkte ihren Kopf zur Seite. Ich habe diese letzte Stunde unsere „Schokoladen-Sterbestunde“ getauft. Zartbitter.

Mutter war nicht mehr ansprechbar. Ich versuchte, sie wieder ins Bett zu legen. Sie konnte mich nicht mehr dabei unterstützen, und ich setzte sie vorsichtig auf dem Boden vor dem Bett ab, lagerte sie mit Kissen, legte die Beine hoch auf einen Stuhl, holte einen kühlenden Waschlappen, setzte mich zu ihr auf den Boden und hielt ihre Hand. Dann war es auch schon geschehen. Der Tod war zu uns gekommen. Es war 17 Uhr.

Die Erde hätte stehenbleiben müssen

Der Arzt stellte den Tod fest und ich starrte immer auf den amtlichen Zettel mit diesem Datum: 20. Januar 2014. Dieses Datum bedeutete mir nichts. Irgendwie fand ich, dass zu Mutters Todestag wenigstens Karl der Große hätte gestorben sein müssen oder eine andere herausragende Persönlichkeit irgendetwas Weltbewegendes getan haben müsste. Eigentlich hätte die Erde stehenbleiben und uns ein Engel Gottes besuchen müssen. Aber vielleicht war der ja auch da.

„Die Liebe geht über den Tod hinaus“, so steht es oft auf Trauerkarten. Und so ließ ich meine Liebe nicht vom Tod unterbrechen. Als das Bestattungsinstitut sofort kommen wollte, ließ ich mir meine tote Mutter nicht einfach rauben. Ich bestellte den Bestatter für Mitternacht. Nun entstand in mir der Wunsch, meine Mutter chic zu machen. Ich nahm also ihre beste und teuerste Bluse aus dem Schrank, legte sie auf den Tisch, holte eine Schere und schnitt in den edlen Seidenstoff im Rückenteil ein „U“. Als die Schere durch den Stoff schnitt, war das so unerhört für mich, dass mir das guttat. Denn es war ja gerade eben etwas noch viel Unerhörteres geschehen. Ich tat dies so meisterhaft, als wenn ich bisher nichts anderes in meinem Leben getan hätte, als edle Blusen zu zerschneiden. Als ich Mutter die Bluse von vorn überzog, passte sie perfekt, auch an den Schultern. Nun kam das schöne Halstuch dazu, ihre schicke Hose und, ja, Strümpfe für ihre kalten Füße. Ich schminkte Mutter so, wie sie sich immer gefallen hatte und frisierte ihr die Haare. Sie sah chic aus, und das war gut so.

Zeit nehmen für den Abschied

Mit dem Tod muss man mitkommen dürfen, sonst behält er über die Maßen den Sieg. Das darf man ihm nicht gönnen. Nun war mir nach Kerzen, also stellte ich den Tisch an Mutters Bett und dekorierte ihn schön. Dann holte ich Fotoalben aus dem Schrank, setzte mich ans Bett und las Mutter die Bildunterschriften, die mein Vater notiert hatte, vor. Es war ein Album der jungen Liebe meiner Eltern.

Ich berührte Mutter immer wieder, um zu verinnerlichen, dass sie sich so anfühlt, wenn sie tot ist.

So vergingen die Stunden bis Mitternacht, und es wurden viele Taschentücher nass. Ich genoss die letzte Nähe zu ihr und prägte mir alles genau ein: ihre Hände, ihr Gesicht, eben alles. Es war im Nachhinein eine so wichtige Phase in meiner Trauer, und ich denke heute oft an unsere letzten Stunden, die so ungewöhnlich zwischen Anwesenheit und Abschied lagen.

Als um Mitternacht der Bestatter klingelte, war ich durch die vergangenen Stunden darauf vorbereitet, dass nun ihr Körper mitgenommen wird. Bevor ich die Tür öffnete, küsste ich meine Mutter auf die Wangen und flüsterte: „Auf Wiedersehen, meine gute Mutti.“ Und ob sie es mir glauben oder nicht: Sie hat mir geantwortet! Es war ein leises, zartes Klicken, als ob Mutter mit letzter, geheimnisvoller Kraft mit der Zunge schnalzt.

Urne selbst zum Grab getragen

Bei der Beerdigung war mir wichtig, dass sich Freude und Trauer die Waage halten. Freude darüber, dass sich ein Leben mit 87 Jahren so gut vollendet hatte. Mutter selbst war immer ein fröhlicher und zu Späßen aufgelegter Mensch. So wählte ich als Abschiedsfoto eines, auf dem Mutter mit einem Glas Sekt allen Betrachtern des Bildes zuprostet. Und so prosteten wir an ihrem Grab mit einem Glas Sekt zurück.

Ich hatte darum gebeten, die Urne meiner Mutter selbst zur Grabstätte tragen zu dürfen. Ich hielt sie fest umschlungen, drückte sie fest an mein Herz und sagte mir: Ja, das ist jetzt meine Mutter in dieser letzten „Form“. Am Grab warteten Luftballons. Jeder der Trauergäste konnte noch einen letzten Gruß an Mutter aufschreiben. Die Kärtchen banden wir an die Luftballons, ich schnitt den Faden durch und ein Strauß bunter Luftballons stieg in den strahlend blauen Himmel mit einer wärmenden Sonne, an diesem 17. Februar 2014.

So war meine Furcht vor dem Tod meiner Mutter letztlich unbegründet, mangels Alltagswissen und Alltagserleben aber doch nachvollziehbar. Lassen Sie uns den Tod doch wieder als Normalität und zum Leben dazugehörig begreifen. Folgen Sie der Intuition Ihres Herzens. Dann werden Sie alles richtig machen – für den Verstorbenen, aber in gleicher Weise auch für Sie selbst. Denn die Seele braucht Rituale und Erinnerungen an so ein einschneidendes Ereignis. Das erleichtert das Trauern danach.