Vitamine und Mineralstoffe: Wann Nahrungsergänzung sinnvoll ist

Vitamine und Mineralstoffe: Wann Nahrungsergänzung sinnvoll ist

Mikronährstoffe, also Vitamine und Mineralstoffe, sind kleine Wundermittel für unseren Körper: Sie stärken unsere Knochen, Muskeln und das Immunsystem, sind maßgeblich relevant für den Stoffwechsel und halten uns auch geistig fit. Sie müssen allerdings regelmäßig über die Nahrung aufgenommen werden. Im hohen Alter oder bei bestimmten Erkrankungen reicht das nicht. Dann kommen Nahrungsergänzungsmittel ins Spiel. Ab wann diese sinnvoll sind und was bei der Einnahme zu beachten ist, erläutert Dr. Werner A. Ulrich im Interview. Er ist Leiter des Gesundheitsschutzes am Standort Melsungen des Pharma- und Medizinbedarfs-Unternehmens B. Braun Melsungen AG.
Tabletten in einer Schablone eines menschlichen Körpers
GettyImages/Peter Dazeley

Wer sich ausgewogen ernährt, braucht keine Nahrungsergänzung, so eine weitverbreitete Meinung – auch unter Ärztinnen und Ärzten. Warum vertreten Sie eine andere Ansicht, Herr Dr. Ulrich?

Dies ist tatsächlich ein häufiges „Totschlagargument“. Die Realität sieht jedoch anders aus, und das belegen auch Studien, zum Beispiel die zweite nationale Verzehrstudie aus 2008, die im Auftrag der Bundesregierung erstellt wurde. Die ernüchternden Ergebnisse darin: Über 66 Prozent der Männer und 51 Prozent der Frauen waren übergewichtig oder gar adipös. Was den Vitaminhaushalt anbelangt, waren an die 20 bis 50 Prozent der Bevölkerung unzureichend mit den Vitaminen B1, B2, B12 und C versorgt. Mineralstoffe betreffend waren über ein Viertel beider Geschlechter schlecht mit Magnesium versorgt, mit Eisen 14 Prozent der Männer und 58 Prozent der Frauen. Allerdings dürften die tatsächlichen Zahlen sogar noch höher liegen.

Warum?

Für die Erhebung wurden die niedrigen Nährstoffgrenzwerte der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zugrunde gelegt, die für die gesunde Bevölkerung gelten. Bei kranken Menschen, gewissen Medikamenteneinnahmen, Stress, Verdauungs- und Stoffwechselstörungen muss aber von einem höheren Tagesbedarf an Mikronährstoffen ausgegangen werden. Damit dürften die realistischen Mangelquoten noch ausgeprägter sein. Die Studie zeigte auch: Ältere ab dem 65. Lebensjahr haben im Vergleich zur Gesamtbevölkerung die schlechteste Versorgung mit Mikronährstoffen. Ebenfalls interessant sind in diesem Zusammenhang Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation. Sie postuliert, dass weltweit ein Drittel der Krebserkrankungen und bis zu 80 Prozent der Todesfälle durch Herzkrankheiten, Schlaganfall und Diabetes Typ 2 lebensstilabhängig sind und somit vermeidbar wären.

Viel Obst und Gemüse – das ist doch Teil eines gesunden Lebensstils oder nicht?

Durchaus. Aber selbst wenn das Bemühen da ist, sich „gesund“ zu ernähren, gibt es ein Problem: In den vergangenen 100 Jahren hat nachweislich der Nährstoffgehalt an Magnesium, Kalzium und Eisen in Gemüse wie Kohl, Salat, Tomaten und Spinat deutlich abgenommen. In den USA und in Großbritannien sogar um 80 bis 90 Prozent – zu diesen Ergebnissen gelangte eine Publikation aus 2018. Die wenigen erwähnten Beispiele zeigen bereits, dass es in Deutschland mit einer „ausgewogenen“ Ernährung und einer damit einhergehenden ausreichenden Mikronährstoffversorgung nicht zum Besten steht.

Wie erkenne ich, ob ein Defizit an Mikronährstoffen besteht?

Oft sind allgemeine Befindlichkeitsstörungen erste Anzeichen, die an eine unzureichende Mikronährstoffversorgung denken lassen sollten. Dazu zählen Müdigkeit oder Schlappheit, aber auch Veränderungen von Haaren, Nägeln und Zahnfleisch. Ziehen in Knochen oder Muskulatur sowie Infektanfälligkeiten sind weitere Hinweise. In diesen Fällen ist eine gezielte Ergänzung von Mikronährstoffen sinnvoll – allerdings sollte parallel immer ärztlich abgeklärt werden, ob ernste Krankheiten zugrunde liegen. Erkrankungen wie Skorbut aufgrund von Vitamin-C-Mangel, Rachitis wegen Vitamin-D-Mangel oder die exotische Keshan-Krankheit, eine Erkrankung des Herzmuskels aufgrund extrem selenarmer Böden, sind Raritäten, kommen aber vor. In einem tropenmedizinischen Praktikum in Indien habe ich 2004 in einer Ambulanz in Kalkutta beispielsweise ein rachitisches Kleinkind mit sichelförmig verformten Unterschenkelknochen gesehen. So eine schwere Vitamin-D-Mangelerkrankung gibt es hierzulande glücklicherweise nicht mehr, aber sehr wohl ein bevölkerungsweites Defizit für dieses „Sonnenhormon“.

Ist es sinnvoll, über Bluttests in der Hausarztpraxis die individuellen Mikronährstoffwerte untersuchen zu lassen?

Etliche Mikronährstoffe können im Labor bestimmt werden, für andere gibt es keine Routinebestimmungen. Somit sind nicht alle Messungen wirklich sinnvoll, da sie nicht aussagekräftig beurteilt werden können. Der ideale Laborbereich für Vitamin D3 zum Beispiel ist gut definiert und sollte bei 40 bis 60 Nanogramm pro Milliliter liegen. Für die Versorgung mit Omega-3-Fettsäuren ist ein sogenannter HS-Omega-3-Index-Labortest empfehlenswert, da die Aufnahme stark variiert und die individuelle Dosisangabe schwierig ist. Der Homocystein-Blutspiegel, streng nüchtern morgens abgenommen, kann ein mögliches Risiko für die Gefäßgesundheit aufdecken und indirekt einen Mangel an B-Vitaminen. Für Eisen gibt es Routinewerte, die den Versorgungsstand sicher darstellen. Andere Bestimmungen, besonders wenn der Mikronährstoffgehalt im Serum und nicht im Inneren der Zellen gemessen wird, sind nur vage zu beurteilen und dabei aber oft teuer zu bezahlen.

Welche Mikronährstoffe fehlen typischerweise insbesondere älteren, pflegebedürftigen Personen?

Der Mikronährstoffmangel zieht sich durch alle Altersgruppen, ist bei Älteren aber am deutlichsten ausgeprägt. Übersehen werden darf im Alter nicht die Fehlernährung im Bereich der Makronährstoffe. Übergewicht mit zu hoher Kohlenhydratzufuhr führt zu einer Fettleber und Diabetes Typ 2. Mangelernährung mit Untergewicht ist ebenfalls keine Seltenheit im Alter. Eine kohlenhydratreduzierte, gemüse- und obstreiche mediterrane Kost mit gutem Eiweißanteil und gesunden Fetten ist für Jung und Alt empfehlenswert. Für die Stärkung des Immunsystems brauchen wir vor allem die Vitamine A und D, die sich an vielen Stellen ergänzen und zusammenwirken. Zur optimalen Aktivierung braucht Vitamin A das Spurenelement Zink und Vitamin D das Mineral Magnesium. Das wichtige Spurenelement Selen rundet den Fünfklang für das Immunsystem ab. Diese fünf Mikronährstoffe – Vitamin A, Vitamin D, Zink, Magnesium und Selen – sollten in der Regel supplementiert werden.

Wie sieht es mit Omega-3-Fettsäuren aus, die insbesondere in fettreichem Meeresfisch vorkommen?

Neben Vitamin D sind die Omega-3-Fettsäuren Eicosapentaensäure und Docosahexaensäure unverzichtbar unter anderem für Hirnleistung, Gefäß- und Infektionsschutz sowie starke Entzündungshemmung, vor allem bei Hautprobleme wie Neurodermitis oder Schuppenflechte. Omega-3-Fettsäuren zeigen wie Vitamin D niedrige Spiegel in der Breite der Bevölkerung auf und sollten deshalb ebenfalls dauerhaft ergänzt werden – also lebenslänglich. Ein häufiger Mangel besteht im Alter auch an B-Vitaminen, vor allem Folsäure und B12. Sie werden über die Ernährung weniger zugeführt, im Magen-DarmTrakt schlechter resorbiert oder durch gängige Medikamente wie Metformin bei Diabetes, ACE-Blutdrucksenker oder Magensäureblocker reduziert. Wir brauchen B-Vitamine aber, etwa um unsere Nervenfunktionen zu stärken, die Zell- und Bluterneuerung sowie den Eiweißaufbau anzukurbeln und die Funktion unserer kleinen Zell-Energiekraftwerke, die Mitochondrien, zu unterstützen. Für den Energiestoffwechsel der Mitochondrien ist zusätzlich Coenzym Q10 bedeutsam, das im Alter deutlich reduziert ist – nicht zuletzt aufgrund häufig verordneter Blutfettsenker, den Statinen. Als wichtiges Antioxidans und bedeutsamer Zellregulator schützt das Coenzym die Herzmuskelzellen. Selbst für eine Regeneration von blutendem Zahnfleisch im Fall von Parodontose hilft Q10. Nicht unerwähnt lassen möchte ich das ebenfalls sehr wichtige Vitamin C und das Spurenelement Eisen. Bei einem Mangel müssen gegebenenfalls auch diese ergänzt werden, wenn sie nicht über den gezielten Versuch einer ausgewogenen Ernährung abgedeckt werden können.

Worauf muss ich bei der Einnahme von Mikronährstoffen achten und was kann ein Übermaß an Vitaminen verursachen?

Dokumentierte Vergiftungsfälle mit Mikronährstoffen sind selten und im Vergleich zu Nebenwirkungen oder Todesfällen durch Pharmaka eine absolute Rarität. Trotzdem sollten Mikronährstoffe verantwortungsvoll eingesetzt werden. Zu niedrige Dosierungen oder eine fehlende Kombination gemeinsam wirkender Mikronährstoffe lässt gewünschte Wirkungen ausbleiben. Zu hohe Dosierungen schaden in der Regel nicht akut, aber langfristig sind sie für die Regelkreisläufe und Gleichgewichte der Körperfunktionen von Nachteil. Bezüglich der korrekten Dosierung, passenden Kombination und über notwendige Einnahmeabstände bei der Anwendung von Mikronährstoffen ist am besten der Rat einer erfahrenen Therapeutin oder eines erfahrenen Therapeuten einzuholen. Die Beratung in Apotheken kann gut sein, aber auch nicht. Hier werden die Produkte oft zu niedrig dosiert angeboten, was der deutschen Gesetzgebung für Nahrungsergänzungsmittel geschuldet ist. Gute Patientenratgeber können auf alle Fälle hilfreich sein, und eine Auswahl seriöser Literatur habe ich zusammengestellt.

Was raten Sie Angehörigen, die Pflegebedürftigen in Sachen Mikronährstoffen „etwas Gutes“ tun wollen?

Pflegende Angehörige sollten ganz egoistisch erst einmal an sich selbst denken: Sie sollten für sich eine gesunde kohlenhydratreduzierte, mediterrane Ernährung umsetzen und die für sie empfehlenswerten Mikronährstoffe einnehmen. Für die herausfordernden Aufgaben in der Versorgung der Angehörigen werden ihnen das gesteigerte Wohlbefinden und die gewonnene gesundheitliche Stabilität gut tun.