Menschen im Wachkoma: Wenn plötzlich alles anders wird

Menschen im Wachkoma: Wenn plötzlich alles anders wird

Angehörige von Menschen im Wachkoma befinden sich in einer besonders herausfordernden Situation. Unsicherheiten darüber, was der Betroffene mitbekommt, und ein Mangel an ausreichender Unterstützung begleiten häufig den Pflegealltag.
Menschen im Wachkoma
GettyImages/kupicoo

Es war wie immer. Um 7 Uhr verließ Sven sein Zuhause. Er wohnte noch bei seinen Eltern und befand sich in der Lehre zum Dachdecker. Gegen 10 Uhr erreichte die Mutter ein Anruf aus dem Krankenhaus. Sven war gestürzt und befand sich in der Notaufnahme des nahe gelegenen Krankenhauses.

Dann ging alles sehr schnell. Die Eltern erfuhren, dass ihr Sohn ein schweres Schädel-Hirn-Trauma (SHT) erlitten hatte, nicht bei Bewusstsein war und intensivmedizinisch versorgt werden musste. Die kommenden Wochen waren ein Leben zwischen Hoffen und Bangen. Er erwachte nicht, wurde beatmet und künstlich ernährt. Die Ärzte sahen nur eine geringe Chance, dass alles wieder so werden würde wie zuvor.

Nach einigen Wochen wurde er auf eine neurologische Station verlegt, eine Beatmung war nicht mehr notwendig, aber er wachte auch nicht auf. Die Pflegenden ermunterten die Eltern, mit ihm zu sprechen, seine Lieblingsmusik mitzubringen, von zu Hause zu erzählen. Bei ihren Besuchen stellten sie fest, dass die Atmung von Sven schneller wurde und sich ab und an ein Zucken um seine Augen zeigte. Es folgte die Einweisung in eine neurologische Rehabilitationsklinik – aber auch hier veränderte sich sein Zustand kaum.

Sie trafen die Entscheidung, ihn mit nach Hause zu nehmen, und seine Mutter reduzierte ihre Arbeitszeit auf 15 Stunden in der Woche. So konnte sie mit der Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes und ihres Mannes Sven versorgen. Das bedeutete jedoch an sieben Tagen die Woche mehr als zehn Stunden Betreuung pro Tag.

Inzwischen lebt Sven nach drei Jahren der Pflege zu Hause in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit schweren neurologischen Beeinträchtigungen.

Wachkomapatienten meist ambulant versorgt

Vielen Familien ergeht es so, wie der Familie von Sven. Zwischen 2.000 und 5.000 Menschen befinden sich in Deutschland nach einem Zwischenfall im Zustand eines Wachkomas, der eine umfängliche Versorgung notwendig macht. Die meisten davon werden zu Hause gepflegt.

Ursachen sind neben schweren Schädel-Hirn-Traumata auch Schlaganfälle, Herzinfarkte, hier das Wachkoma als Folge einer Reanimation, Badeunfälle oder hormonelle Entgleisungen. Viele der Betroffenen sind unter 40 Jahre alt, besonders Kinder sind durch Verkehrs- oder Badeunfälle betroffen.

Fünf Phasen

Im Zustand des Wachkomas werden fünf Phasen unterschieden. Sie gliedern sich in die Akutversorgung, mehrere Phasen der Rehabilitation und die Phase der Langzeitversorgung im Wachkoma (Phase F).

Trotz einer differenzierten Diagnostik gibt es immer wieder Fehleinschätzungen in Bezug auf Wachkomapatienten (bis zu 40 %). Besonders häufig wird ein Zustand nicht erkannt, der trotz fehlender Bewegung und anderer typischerweise auf Wachkoma zutreffende Symptome der betroffenen Person ermöglicht, ihre Umgebung wahrzunehmen: das Locked-in-Syndrom. Hierbei ist der Patient fast vollständig gelähmt, das Bewusstsein und die geistigen Funktionen sind jedoch nicht beeinträchtigt.

Wichtig ist, dass Sie immer davon ausgehen können, dass Ihr Angehöriger Sie wahrnimmt. Studien belegen, dass Menschen im Wachkoma zwischen Phasen eines tiefen Komas über Wachheitsphasen verfügen. Menschen, die viele Monate im Koma verbrachten, berichteten von ihren Wahrnehmungen in dieser Zeit.

Es war ihnen nicht möglich, die Zeit zuzuordnen oder einzelne Erfahrungen, aber sie konnten sehr wohl über entspannende Momente oder Erlebnisse, die ihnen Angst vermittelten, berichten. Gerade Ihre Kenntnisse über Vorlieben Ihres Angehörigen oder Dinge, die er vermeidet, sind von Bedeutung. Geliebte Musik, bevorzugte Gerüche und Berührungen können Entspannung und Sicherheit vermitteln.

Besonders das Konzept der Basalen Stimulation wird von vielen Angehörigen intuitiv eingesetzt, um den geliebten Menschen in seiner derzeitigen Lebensphase zu unterstützen und diese erträglich zu machen.

Die Unsicherheit, die Angst, etwas zu verpassen, was helfen würde, treibt die Angehörigen von Menschen im Wachkoma an. Sie binden nicht nur ambulante Pflegedienste, Ergo- und Physiotherapeuten in die Förderung ihres Angehörigen ein, sondern fordern sich selbst tagtäglich eine kaum zu leistende Achtsamkeit ab.

Daran können Partnerschaften zerbrechen, Geschwisterkinder zu sehr belastet werden und die Hauptpflegeperson vereinsamt und kann kaum noch Aktivitäten außerhalb des Hauses nachgehen.

Dabei haben alle Betroffenen umfangreiche Rechte auf Unterstützung. Neben der Einschätzung des vorhandenen Pflegegrades, welcher unzweifelhaft den Grad 5 erreicht, können die Betroffenen eine differenzierte Beratung erwarten, die auf ihre Situation zugeschnitten ist. Dazu sind die Pflegekassen verpflichtet.

Die Beratung umfasst die korrekte Hilfsmittelausstattung und deren Beantragung, das medizinisch-therapeutische Management und die Entlastungsangebote für die Hauptpflegepersonen ebenso wie den Hinweis auf Verhinderungspflege, Kurzzeitpflege und Angebote für einen Urlaub mit oder ohne die pflegebedürftige Person sowie psychotherapeutische Maßnahmen.

Menschen, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit oder durch ein Fremdverschulden so einen schweren Zwischenfall erlitten haben, haben ein Anrecht auf ein Case-Management. Dieses wird zumeist von den Berufsgenossenschaften oder der zuständigen Haftpflichtversicherung sichergestellt und hilft, die Situation zu strukturieren und erträglicher zu gestalten.

Auch Selbsthilfegruppen können dazu beitragen, die Belastung und das entstandene Leid zu verringern. Hier bieten beispielsweise die Verbände „Schädel-Hirnpatienten in Not e. V.“ oder „Wir pflegen e. V.“ Unterstützung.

Wichtig ist die frühzeitige Inanspruchnahme einer auf die Situation bezogenen Beratung. Hierzu muss die beratende Person sich mit Menschen im Wachkoma auskennen und auch deren Rechte auf eine gute Versorgung vermitteln. Denn je länger eine Familie mit den bürokratischen und pflegerischen Anforderungen alleingelassen wird, umso mehr ist sie von einer totalen Überforderung bedroht.

Auch wenn die pflegerische Versorgung schon lange besteht, haben Sie ein Recht darauf, eine differenzierte Beratung zu erhalten, und zwar von einer Person, die sich damit auskennt und zu ihnen nach Hause kommt. Diese Rechte sind auch in der Charta der „Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“, herausgegeben vom Bundesfamilienministerium, festgehalten.

Der Bundestag hat einen unabhängigen Beirat zur „Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“ einberufen, der einen ersten Abschlussbericht vorgelegt hat. Auch hier werden Handlungsempfehlungen ausgesprochen, die den Gesetzgeber auffordern, pflegende Angehörige umfassend zu unterstützen.

Pflegende Angehörige haben meist keine Kraft mehr, sich noch an politischen Aktionen zu beteiligen, daher ist es wichtig, dass es andere für sie tun. Die oben aufgezählten Akteure sind solche Interessen-Vertreter. Sie bieten aber auch direkte Unterstützung durch Beratung an.