„Mein Pflegedienst muss täglich Patienten ablehnen“
Es wird immer schwieriger einen Pflegedienst für sich und seine pflegebedürftigen Angehörigen zu finden. Dass das nicht nur ein Gefühl ist, sondern eine Tatsache, bestätigt uns Christian Westermann, der einen ambulanten Dienst mit 54 Mitarbeitenden und rund 400 Patientinnen und Patienten im Ruhrgebiet führt. Er rät, was Betroffene tun können.
Herr Westermann, Sie haben kürzlich mit der Aussage von der „imaginären Warteschlange vor den Pflegediensten“ für Aufmerksamkeit gesorgt. Ist es so, dass nicht jede Pflegebedürftige und jeder Pflegebedürftige einen ambulanten Dienst für sich findet?
Ja, das muss man leider so sagen. Das gilt insbesondere für die spezialisierte Versorgung, beispielsweise im Wund- oder Palliativ-Bereich. In ländlichen Gegenden sieht es aber auch in der regulären ambulanten Versorgung schwierig aus. Selbst mein Pflegedienst muss täglich drei bis vier Patienten ablehnen. Für mich ist das eine umgedrehte Triage.
Wie meinen Sie das?
Im Krankenhaus werden bei einer Triage aufgrund von Ressourcenknappheit die Behandlungsdringlichkeit bei Patienten festgelegt und praktisch eine Sortierung vorgenommen. In der nach-stationären Versorgung ist es so, dass immer mehr ambulante Dienste aufgrund von Personalknappheit Patienten mit aufwändigerem Versorgungsbedarf, also bei denen zum Beispiel aufgrund von Immobilität regelmäßige Versorgungseinheiten von 40 Minuten oder mehr notwendig sind, ablehnen müssen. Gerade diese Patienten benötigen aber professionelle Betreuung.
"Wir werden nie mehr ausreichend Pflegekräfte nachbekommen."
Wo bleiben diese Menschen?
Häufig kommen sie dann im Pflegeheim unter. Es ist ein Trend, dass in den Heimen immer mehr Menschen mit einem niedrigen Pflegegrad untergebracht sind, da beispielsweise die Angehörigen zu weit weg wohnen, um eine Betreuung zu übernehmen.
Wie ist es Ihrer Meinung nach so weit gekommen, dass nicht mehr gewährleistet ist, dass jeder, der pflegebedürftig ist, auch ambulant adäquat versorgt werden kann?
Da spielen mehrere Faktoren zusammen. Zum einen gilt seit September vergangenen Jahres das Tariftreuegesetz. Wir haben es immer begrüßt, dass auch in der ambulanten Pflege Tariflöhne gezahlt werden müssen, und nur diese Arbeitgeber dann noch mit den Pflegekassen abrechnen dürfen. Aber es gibt keine hundertprozentige Refinanzierung der höheren Löhne durch die Pflegekassen. Und gepaart mit der Inflation und den steigenden Kosten für Energie und Benzin, hat das zahlreiche ambulante Dienste in eine Existenzkrise oder gar in eine Insolvenz geführt. Selbst die finanziellen Puffer, die eigentlich als Rücklagen für Investitionen gedacht waren, konnten die gestiegenen Kosten teilweise nicht auffangen. Hinzu kommt die Not der Patienten, die ja ebenfalls unter gestiegenen Energiekosten und der Inflation leiden.
Christian Westermann (47) ist gelernter Altenpfleger und Fachdozent im Sozial- und Gesundheitswesen. Als Inhaber des spezialisierten Pflegedienstes für Wundversorgung „Engel vonne Ruhr“ in Mühlheim/Ruhr beschäftigt er 54 Mitarbeitende. Zehn von ihnen haben eine Zusatzqualifikation als Wundexperten. Westermann ist Mitbegründer der Bundesarbeitsgemeinschaft spezialisierter Leistungserbringer Wunde (BAG Wunde), der zurzeit bundesweit 14 Pflegedienste und einige Wundzentren angehören.
Wie schlägt sich dies bei den ambulanten Diensten nieder?
Immer mehr unserer Patienten benötigen das Pflegegeld, um ihre finanziellen Verpflichtungen im Alltag zu bestreiten. Wenn die bewilligten Pflegesachleistungen nicht ausgeschöpft wurden, bekommen die Patienten dies als Pflegegeld ausgezahlt. Und dies wird auch immer öfter benötigt, um Lebensmittel einzukaufen oder die Wohnung heizen zu können.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Wir erleben immer öfter, dass im Telefonat eine tägliche Versorgung angefragt und auch vereinbart wurde. Dann wird diese aber immer häufiger kurzfristig abgesagt und so versorgen wir den Pflegebedürftigen vielleicht noch viermal die Woche. Das ist schwierig, denn wir planen ja mit unserem Personal und halten dies vor.
Aber selbst die Dienste, die die wirtschaftlichen Herausforderungen erfolgreich gemeistert haben, finden kaum ausreichend Personal. Woran liegt das?
Auch das hat mehrere Gründe. Es fehlen zum einen die Mitarbeitenden, die in der Corona-Pandemie aus dem Beruf ausgestiegen sind. Dann fehlen bald die Babyboomer-Jahrgänge. Diese Mitarbeitenden sind mittlerweile 62 Jahre und älter und steuern auf die Rente zu. Und es gibt allein hier in Nordrhein-Westfalen sieben Prozent weniger Bewerber für den Pflegeberuf. 30 Prozent der Auszubildenden brechen die Ausbildung ab, und das liegt nicht an der Bezahlung.
Woran dann?
Die jungen Menschen in der generalistischen Pflegeausbildung merken, dass sie in ein System geraten, das kurz vor dem Kollaps steht. In ihren Praxiseinsätzen kommen sie in Einrichtungen, in denen Chaos herrscht. Es gibt oftmals keine Zeit für Anleitungen und die Auszubildenden finden sich schnell in Überforderungssituationen wieder. Ich befürchte, dies wird durch die bevorstehende Krankenhausreform noch verstärkt.
Wo sehen Sie da Berührungspunkte?
Die bevorstehende Krankenhausreform kann nur funktionieren, wenn der ambulante Pflegebereich gestärkt wird, wenn zum Beispiel Spezialisierungen honoriert werden. Chronische oder komplizierte Wunden können nicht von jeder und jedem versorgt werden, sonst entsteht schnell ein Drehtüreffekt. Das bedeutet, ein Wund-Patient wird aus dem Krankenhaus entlassen, die ambulante Versorgung der Wunde ist nicht gesichert, er kommt mit einer Infektion oder ähnlichem wieder ins Krankenhaus und so weiter.
Worin liegt denn der Unterschied zwischen einem allgemein arbeitenden ambulanten Dienst und einem auf Wundversorgung spezialisierten Leistungserbringer?
Der spezialisierte Dienst beschäftigt extra qualifiziertes Personal und arbeitet mit einem Facharzt wie einem Chirurgen oder Diabetologen zusammen. Wenn es ein Problem bei der Wundheilung geben sollte, kann hier auf dem kurzen Dienstweg eine Zweitmeinung eingeholt werden. Und dazu kommt, dass beispielsweise auf Wundversorgung spezialisierte Dienste einfach mehr Erfahrung haben. Ein nicht-spezialisierter Dienst hat vielleicht fünf Patienten mit chronischen Wunden, wir haben unter unseren etwa 400 Klienten zurzeit 112 Wund-Patienten.
“Ich kann nur raten, sich immer an die Pflegeversicherung zu wenden und zu berichten, dass keiner der von ihr vorgeschlagenen Dienste Kapazitäten hat.”
Sie sind ein Freund von Spezialisierungen und haben daher auch die Gründung einer Bundesarbeitsgemeinschaft spezialisierter Leistungserbringer vorangebracht.
Ja, denn das ist die Zukunft. Es gibt immer weniger Ärzte und Fachärzte und bald auch weniger Krankenhäuser. Somit plädiere ich dafür, Wissen zu bündeln und beispielsweise ein bundesweites Wundregister zu erstellen. So können wir auch politisch stärkere Position beziehen.
Aber kommen wir doch nochmal auf die Ausgangslage zurück: Es gibt zu wenig ambulante Dienste für zu viele Patienten. Was können Pflegebedürftige tun, wenn sie partout bei keinem Dienst genommen werden?
Ich kann nur raten, sich immer an die Pflegeversicherung zu wenden und zu berichten, dass keiner der von ihr vorgeschlagenen Dienste Kapazitäten hat. Eventuell hilft auch eine Beschwerde bei der Pflegekammer des Landes. Letztlich ist das aber auch ein gesamtgesellschaftliches Thema. Wir werden nie mehr ausreichend Pflegekräfte nachbekommen, somit werden wir uns nur noch um diejenigen kümmern, die nichts mehr selbstständig können oder keine Hilfe haben. Wir müssen wegkommen von der Anonymität. Ich denke da an Pflege im Quartier oder Nachbarschaftshilfe. Es gibt schon schöne Ansätze, bei denen zum Beispiel bei Neubauten darauf geachtet wird, dass Räumlichkeiten für eine Begegnungsstätte oder als Tages-Treffpunkt vorgehalten werden. Davon brauchen wir viel mehr.