Häusliche Pflege: Auch mal Nein sagen

Pausen, die dringend nötig sind, werden mit einem Mal nicht mehr so wichtig genommen oder immer wieder hinausgeschoben, da die übernommene Verantwortung in der häuslichen Pflege schwerer wiegt. Aus Liebe, mitunter jedoch auch aus Sorge, die übernommene Aufgabe nicht gut genug auszufüllen, überschreiten wir manchmal unsere eigenen Grenzen.
Wer kennt das nicht: Wir möchten gerne manchmal ein „Nein“ aussprechen, und sagen dann doch: „Ja“.
In diesem Moment stellen wir die Bedürfnisse des Menschen, den wir pflegen, über unsere eigenen Bedürfnisse. Das ist sicherlich für einen kurzen, überschaubaren Zeitraum möglich, jedoch langfristig werden wir weder uns selbst noch dem Menschen, dem wir zu Seite stehen wollen, gerecht.
Häufig haben wir schon in frühester Kindheit gehört und gelernt, uns selbst nicht so wichtig zu nehmen. Uns wurde erzählt, es sei egoistisch, zuerst an sich selbst zu denken. Dabei geht es nicht um Egoismus, sondern es geht um eine gesunde Selbstliebe. Ein gutes Selbstwertgefühl ist die Voraussetzung dafür, mit sich selbst so umsorgend und wertschätzend umzugehen, wie wir auch den Angehörigen, den wir pflegen, umsorgen. Denn wenn wir uns selbst nicht wichtig nehmen, wer achtet dann auf uns? Menschen, die bereits auf Pflege angewiesen sind, können das in der Regel nicht tun.
Häusliche Pflege: Die eigenen Grenzen kennen
Grundsätzlich ist bei der häuslichen Pflege wichtig, die eigenen Ressourcen im Auge zu behalten und klar mitzuteilen, wenn zum Beispiel eine Pause oder Unterstützung gebraucht werden. Nur wenn wir gut auf uns selbst achten und unsere persönlichen Bedürfnisse wahrnehmen, sind wir in der Lage, den Menschen, die unserer Liebe, Zuwendung und Unterstützung benötigen, kraftvoll zur Seite zu stehen.
Einfach nur ein „Nein“ auszusprechen, mit der Begründung: „Ich habe heute keine Zeit“, ist hart und wird einem liebevollen und wertschätzenden Umgang in einer Pflegesituation nicht gerecht. Häufig haben wir Angst, dass der andere, der uns um etwas bittet, traurig oder ärgerlich ist, wenn wir nicht ununterbrochen für ihn da sein können.
Manchmal wird auch versucht, ein Schuldgefühl zu verursachen, indem uns vermittelt wird, dass wir einer übernommenen Verantwortung nicht genügend nachgekommen sind. Schuldzuweisungen sind jedoch in Pflegesituationen fehl am Platz. Angst und Schuldgefühle sind Ergebnisse unserer Gedanken, die mit der Realität nichts zu tun haben. Ein Grundbedürfnis von Menschen ist eine gewisse Hilfsbereitschaft, die dazu führt, dass wir Menschen, vor allem die, die wir lieben, gerne bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse unterstützen. Also haben auch diejenigen, mit denen wir in engem Kontakt stehen und die im Rahmen der Pflegesituation auf Hilfe angewiesen sind, ein sehr großes Interesse daran, dass wir als unterstützende Person gesund sind und bleiben.
Daher ist es hilfreich, erst einmal für sich selbst zu klären, was wir jetzt gerade brauchen, um unsere eigenen Batterien wieder aufladen zu können. Vielleicht benötigen wir einfach Ruhe und Schlaf, Abwechslung und Freude oder ganz einfach Zeit für uns selbst. Egal, welches Bedürfnis es auch immer ist, es steht uns zu!
Angemessen „Nein“ sagen
Sie wollen den Angehörigen nicht verärgern oder traurig machen und trotzdem für sich so gut sorgen, dass Sie nach wie vor für ihn da sein können. Das ist anfangs ein Balanceakt. Vielleicht sind Sie müde, brauchen eine Auszeit oder einen Tapetenwechsel oder sind selbst bereits krank geworden und ebenfalls auf Unterstützung angewiesen.
Kurz: Sie sind oder fühlen sich zu schwach, um die häusliche Pflege und damit die ursprünglich übernommene Verantwortung wahrzunehmen. Das steht Ihnen zu! Denn es geht nicht darum, einen Angehörigen so umfangreich und bis zur Selbstaufgabe zu pflegen, bis wir aufgrund der Überbelastung selbst zum Pflegefall werden.
An dieser Stelle ist es dringend erforderlich, ein Stopp zu setzen, also ein „Nein“ auszusprechen, um die eigenen Ressourcen wieder aufzufüllen. Nur wir selbst können exakt spüren und wissen, wann unsere Ressourcen aufgebraucht sind. Es ist unsere Aufgabe und Verantwortung, für die erforderlichen Pausen zu sorgen, um selbst gesund zu bleiben und als Pflegender in der Pflegesituation weiterhin zur Verfügung zu stehen.
Wenn es darum geht mitzuteilen, dass das Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung im Vordergrund steht, könnte man sagen: „Ich bin in dieser Woche an 4 Tagen zu deiner Unterstützung hier gewesen.“
Verständnis schaffen
- Die tatsächliche Situation anzusprechen, ist klärend und schafft Verständnis. „Ich bin absolut müde und erschöpft.“
- Ein Gefühl nennen, das einen gerade bewegt. „Ich brauche dringend etwas Zeit und Erholung für mich, und möchte gerne eine Woche verreisen, um meine Batterie wieder aufzuladen.“
- Nennen Sie Ihre Bedürfnisse. Anschließend können Sie wieder auf die Bedürfnisse des anderen eingehen, zum Beispiel so: „Was brauchst du, um die nächste Woche ohne meine Begleitung auszukommen?“
Oder: „ Was darf ich für dich für diese Woche organisieren?“
Oder: „ Wie geht es dir, wenn du das jetzt von mir hörst, dass ich so müde bin und selbst etwas Ruhe brauche?“
Ein „Nein“ kann wertschätzend gesagt werden
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie auf Verständnis und Mitgefühl beim Gesprächspartner stoßen, wenn Sie Ihre wirklichen Gefühle nennen. Enttäuschung oder Traurigkeit über Ihr „Nein“ kann es geben. Das ist völlig normal, denn derartige Gefühle sind lediglich ein klarer Hinweis darauf, dass die persönlichen Bedürfnisse des Bittenden nicht erfüllt sind. In diesem Fall könnte es sich um die Bedürfnisse nach Zeit, Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Unterstützung handeln. Im Gegensatz dazu sind die Bedürfnisse erfüllt, wenn sich Gefühle wie Glück, Zufriedenheit und Geborgenheit einstellen.
Unserer Gefühle sind immer nur ein Hinweisgeber darauf, ob unsere persönlichen Bedürfnisse erfüllt sind oder nicht. Von daher ist es gut und wichtig, uns zu gestatten, unsere persönlichen Gefühle auch wahrzunehmen.
Was ist jedoch zu tun, wenn der Pflegebedürftige das „Nein“ nicht hören möchte oder ablehnt? Zunächst einmal ganz ruhig bleiben und empathisch, also absichtslos nachfragen, was konkret abgelehnt wird. Vielleicht möchte der Angehörige nicht alleine sein oder benötigt spezielle Unterstützung an bestimmten Tagen. Klären Sie ganz in Ruhe, um was es konkret geht. Wenn gemeinsam das Bedürfnis gefunden wird, sind wir in der Lage, Alternativen zu finden. Und diese Alternativen gibt es immer.
Respektvoller Umgang: Man kann lernen sich abzugrenzen, ohne den anderen zu verletzen.
Machen Sie sich klar, dass der Angehörige nicht zwingend mit allem einverstanden sein muss, aber wie wichtig es ist, dass der Pflegende, im Rahmen seiner übernommenen Verantwortung für den Angehörigen, nach wie vor auch die Verantwortung für das eigene Leben und das eigene Wohlbefinden hat.
Durch das Benennen der Gefühle und der eigenen Bedürfnisse entsteht in der Pflegesituation eine Verbindung, die über die sprachliche Kommunikation hinausgeht. So ist ein „Nein“ auszusprechen keine trennende Kommunikation. Hilfreich kann es sein, immer wieder zu betonen, dass ein Nein keine Ablehnung eines Menschen bedeutet, sondern dass es vielmehr darum geht, aufgrund von unterschiedlichen Gründen das eigene Bedürfnis an die erste Stelle zu stellen.
Tatsache ist, dass bei all unseren Handlungen das Befriedigen unserer Bedürfnisse immer im Vordergrund steht. Interessant ist zu erkennen, dass wir uns mit der Pflege eines Angehörigen im häuslichen Umfeld ebenfalls ein Bedürfnis erfüllen. Das hört sich im ersten Moment etwas ungewöhnlich an, denn wir investieren ja Zeit und Energie für einen anderen Menschen. Aber wie schon gesagt tun wir nichts, ohne uns auch selbst ein Bedürfnis zu erfüllen. Mit der Pflege eines Angehörigen erfüllen wir uns eventuell das Bedürfnis nach Nähe, Gemeinsamkeit, Begleitung, Schutz, Liebe oder gemeinsamer Zeit.
Welches ist Ihr ganz persönliches Bedürfnis, das Sie sich in der häuslichen Pflege Ihres Angehörigen erfüllen?
Egal was es auch immer ist: Wenn Sie sich dieses Bedürfnis noch weiterhin erfüllen möchten, dürfen Sie darauf achten, gesund zu bleiben. Das wird sich der Mensch, den sie in dieser Phase des Lebens begleiten, sicherlich sich für Sie ebenfalls wünschen. Wenn wir ehrlich und authentisch bleiben und unseren Lieben mitteilen, was uns bewegt und was wir brauchen, geben wir ihnen gleichzeitig auch die Chance, einen Teil der Liebe und der Aufmerksamkeit zurückzugeben. Ein offener Dialog wie die Pflege und die liebevolle Betreuung gehen können, sodass auch Pflegende in ihrer Stärke und Gesundheit bleiben, kann entstehen.
Vielleicht ist es auch eine Idee, diesen Artikel in der Pflegesituation gemeinsam zu lesen und einmal offen und ehrlich über die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen. Dabei können alle Seiten nur gewinnen.